Morgenkommentar am 19. April 2017

Türkei und Russland, die beiden einzigen europäischen Länder, deren Territorium sich auch auf den asiatischen Kontinent erstreckt, bewegen sich weltanschaulich aufeinander zu – und von Europa fort. Dass sie zur gleichen Zeit politische Rivalen sind, muss kein Widerspruch sein.

Vor 300 Jahren hat Peter I Russland “zum Westen hin geöffnet”, vor 100 Jahren Kemal Atatürk die Türkei. Doch auf welche Weise? Zar Peter hat Bärte verboten, Atatürk den Fez. Die “Öffnung nach Westen” diente beiden nur dazu, ihren Staat zu modernisieren, in Krieg und Frieden mit den europäischen Staaten mithalten zu können. Was gern übersehen wird: Gesellschaftlich blieben sowohl die Türkei als auch Russland autoritär, von vertikaler Macht geprägt. Die Verhältnisse im Deutschen Reich gegen Ende des Mittelalters waren wahrscheinlich liberaler als die in Russland im 19. Jahrhundert. Vom 20. ganz zu schweigen. Und Atatürk selbst war wahrlich kein demokratischer Herrscher.

Heute ist das europäische Charisma verbraucht .. . die verheerenden Weltkriege, der Verlust der Kolonialreiche, der Aufstieg Amerikas, die Globalisierung. Übrig geblieben ist der kleine weiße Mann, der ständig betonen muss, dass alle anderen mindestens ebenso viel wert sind wie er. Ist das die Botschaft, auf die irgendwer gewartet hat? Russen und Türken, erst recht die Chinesen, hatten in dem Punkt nie einen Zweifel.

Die Aussicht, diesem Europa auch noch als fünftes Rad am Wagen anzugehören, ist für keinen Politiker in Ankara oder Moskau attraktiv, auch nicht für die Opposition. Da sucht man sich eher seinen eigenen Weg, so holprig der erscheinen mag. Die Briten folgen dem gleichen Instinkt.

In allen drei Ländern (und in den USA) ist es übrigens das im Westen gern geschmähte “Volk”, das in eine neue Richtung drängt. Nicht uncharakteristisch für historische Umschwünge – das Volk und eine Handvoll Repräsentanten der Elite leiten die Wende ein, während die träge Masse der Arrivierten fassungslos dreinschaut.

Für Europa bricht nicht die Götterdämmerung an, wenn im Osten autoritäre Zustände herrschen. An der Türkei oder an Russland geht der Kontinent nicht zugrunde. Das türkische Referendum sollte jedoch ein Weckruf sein, sich um die eigenen Verhältnisse zu kümmern: die eigenen Grenzen, die eigene Identität, die eigene Demokratie. Dort liegt mehr im Argen, als die Leitartikler auch nur ahnen.