Interview: Drei Monate bei einer Glaubensgemeinschaft in Sibirien
Jo Plehn ist 26 Jahre alt und absolviert sein Masterstudium der Philosophie an der FU Berlin. Im Jahr 2014 entschloss er sich, drei Monate bei der „Kirche des letzten Testaments“ in „Ökopolis Tiberkul“ zu verbringen. Die Anhänger der Kirche haben in der sibirischen Taiga zahlreiche Dörfer gebaut, in denen etwa 5.000 Gläubige möglichst autark wohnen. Sie glauben an Außerirdische und an die Zerstörung der Erde. Jo glaubt nicht daran, ist aber dennoch von der Nächstenliebe als höchstes Gebot und der ökologischen Lebensweise beeindruckt.
Wie kamst Du darauf, in der sibirischen Taiga, fernab der modernen Zivilisation, in einer spirituellen Glaubensgemeinschaft zu leben?
Im Rahmen meines Bachelorstudiums habe ich nach einem Praktikum gesucht, das mich vor neue Herausforderungen stellt. Mir ging es darum, etwas anderes zu erleben, etwas, das sich stark von meinem gewohnten Alltag unterscheidet. Ich habe mich schon immer für alternative Lebensformen interessiert. Vielleicht auch deshalb, weil ich noch nicht genau weiß, wo auf der Welt der richtige Ort für mich sein kann. Nach langer Recherche bin ich auf die Kirche des letzten Testaments gestoßen. Ihr Ziel, an dem sie Tag für Tag arbeiten, ist es, liebevoll mit sich und ihrer Umwelt umzugehen. In modernen Gesellschaften wird das meiner Meinung nach häufig vernachlässigt. Wie das Leben dort praktisch abläuft, wollte ich selbst erleben. Da die Verständigung in russischer Sprache abläuft, habe ich zur Vorbereitung erst einmal einen Russisch-Kurs belegt.
Auf welche Glaubensgrundsätze stützt sich diese Gemeinschaft?
Die Mitglieder glauben an Wissarion, einen Mann, der im Jahr 1991 seine Erleuchtung hatte und sich seither selbst als den Nachfolger von Jesus Christus bezeichnet. Wissarion hat daraufhin in Sibirien mit einer Handvoll Jüngern eine Siedlung errichtet, die sich seitdem auf immer mehr Dörfer ausweitet: Ökopolis Tiberkul. Die Mitglieder der Kirche des letzten Testaments nennen Wissarion „den Lehrer“. Die wichtigsten Prinzipien sind die christliche Nächstenliebe und das Leben im Einklang mit der Natur. Aus diesem Grund streben sie nach einer veganen Ernährungsweise, auch wenn tierische Erzeugnisse, mit der Ausnahme von Fleisch, prinzipiell nicht verboten sind. Seine Lehren hat Wissarion in Glaubensbüchern niedergeschrieben. Wissarion ist der Meinung, dass die Menschheit in den letzten 2.000 Jahren zwar theoretisch verstanden hat, was Liebe ist, dass sie aber unfähig ist, diese Liebe praktisch zu leben. Das lehrt sie jetzt Wissarion. Er geht davon aus, dass der Egoismus der Menschen die Welt zu Grunde richten wird, was unweigerlich zum Untergang der Welt führt. Wissarion hat deshalb einen Platz nach Vorbild der Arche Noah geschaffen, der seine Gefolgschaft vor dem Weltuntergang bewahrt.
Wie stehst Du zu Wissarion und seinen Lehren?
Ich selbst glaube nicht an ihn. Auch zum christlichen Glauben fühle ich mich nicht zugehörig. Mich faszinieren die praktische Umsetzung, die Liebe und der Respekt voreinander viel mehr als die Metaphysik dahinter. In Sibirien habe ich diesbezüglich von Anfang an mit offenen Karten gespielt und wurde dennoch von den meisten Bewohnern warmherzig empfangen.
Wie kann man sich die spirituellen Riten vorstellen?
Es gibt neben den ganz praktischen Verpflichtungen, die ein geregeltes Leben ermöglichen, natürlich auch religiöse Rituale. Jeder Morgen beginnt mit einer Zeremonie, zu der sich alle Dorfbewohner in einem dafür vorgesehenen Haus zusammenfinden. In der Mitte des Raumes stehen Bilder von Wissarion. Darum herum bilden die Bewohner Kreise. In den inneren Kreisen sitzen die Männer, weiter außen die Frauen. Nach Gebeten und Gesängen werden die jeweils anfallenden Aufgaben und die Tagesplanung besprochen. Danach brechen alle auf, um ihrem Tagewerk nachzugehen. Alle drei Stunden läutet die Kirchenglocke und unterbricht alle Arbeitsabläufe. Man fasst sich an den Händen, singt und verbindet sich mit dem Lehrer. Ich selbst habe diese Momente der Unterbrechungen genutzt, um mir bewusst zu machen, in welcher Geisteshaltung ich mich gerade befinde. Bin ich fröhlich, traurig, ängstlich, wütend? Und wie wirkt sich das auf meine Arbeit aus?
Wie sah Dein Leben bei den Wissarioniten aus?
Zuerst einmal wartete jede Menge Arbeit auf mich: physisch, psychisch und spirituell. Nach einer siebentägigen Reise stand ich inmitten der sibirischen Taiga. Während meines Aufenthalts lebte ich mit unterschiedlichen Familien unter einem Dach zusammen und wurde komplett in deren Alltag integriert. Das Leben bei den Wissarioniten ist aufs Höchste strukturiert. Sie glauben, dass jedem Menschen qua Geburt eine feste Rolle in der Gesellschaft zugedacht ist. Für Männer bedeutet das harte körperliche Arbeit. Frauen übernehmen das Umsorgen der Familie und die Verantwortung für den Haushalt. Neben diesen Pflichten wird der Kunst ein hoher Stellenwert zugeschrieben. Beide Geschlechter verbringen viel Zeit damit, ihr kreatives Potential zu entfalten. Die Gemeinschaft war auch an meiner Kunst interessiert. So habe ich einmal in „Obitel Rassveta“, dem Wohnort von Wissarion, ein Konzert gespielt. Es war interessant zu sehen, wie begeistert die Menschen auf meine Musik reagieren.
Wie organisieren sich die Menschen in den Dörfern?
Jede Dorfgemeinschaft organisiert sich selbst. Je weiter ein Dorf von dem heiligen Berg, Wissarions Wohnstätte, entfernt liegt, desto weniger streng ist man in die religiösen Strukturen eingebunden. Der Transport von Gütern und Personen zwischen den Dörfern erfolgt mit Hilfe einfacher Lastwagen. Jede Wohnsiedlung verfügt über eigene Rätestrukturen, bestehend aus einem Wirtschaftsrat und einem Ethikrat. Hier werden alltägliche Probleme besprochen. Häufig kommen die Bewohner ursprünglich aus „normalen“ Lebenswelten und haben Berufe und Fähigkeiten erlernt, die sie in die Gemeinschaft einbringen. Deshalb gibt es in jedem Dorf eine Arztpraxis, die teilweise aber nur rudimentär ausgestattet ist. Außerdem gibt es Schulen, in denen die Schüler einen anerkannten Abschluss machen können. Interessant ist, dass sämtliche Kriege, Adolf Hitler oder Stalin, im Unterricht keine Erwähnung finden, da die Wissarioniten der Meinung sind, dass diese historischen Realitäten die Entwicklung ihrer Kinder negativ beeinflussen. Viele der jungen Erwachsenen gehen nach der Schule zum Studieren in nahegelegene Städte oder ins Ausland. Die meisten von ihnen kehren aber danach zu Wissarion zurück.
Zu welchen Gelegenheiten bekommen die Gläubigen ihren Lehrer denn mal persönlich zu Gesicht?
Jeden Sonntag prozessieren die Bewohner auf einen Berg, neben dem die einzelnen Dörfer liegen. Diese sonntägliche Prozession dauert etwa vier Stunden und wird bei jedem Wetter vollzogen. Auf dem Rückweg halten die Dorfbewohner an einem dafür vorgesehenen Ort inne und warten sehnsüchtig auf Wissarion. Er erscheint nicht regelmäßig. Manchmal kommt er drei Sonntage hintereinander nicht und manchmal zeigt er sich fünf Sonntage in Folge. Wissarion spürt angeblich, wann es für seine Gläubigen nötig ist, dass er persönlich erscheint und zu ihnen spricht. Dann schwebt er aus dem nahe gelegenen Wald hinab. Weil er bodenlange Gewänder trägt, sieht es wirklich so aus, als würde er schweben (lacht). Die Anwesenden können nach einigen Gebeten praktische Fragen des Lebens an ihren Lehrer stellen, der genaue Handlungsanleitungen und Lösungen für jedes Problem liefert.
Was passiert eigentlich mit dem Privatbesitz, wenn man ein Wissarionit werden möchte?
Ein Teil des Eigenkapitals fließt in die Gemeinschaft. Wie hoch der Anteil ist, den man abgibt, hängt mit der Nähe zum Lehrer zusammen. Wer im engeren Zirkel sein Haus errichtet, glaubt besonders stark an Wissarion und spendet den Großteil seines Geldes. Von dem Vermögen in den Gemeinschaftskassen werden dann für jedes Dorf notwendige Güter aus dem Umland besorgt. Das Geld, das jeder behält, wird dazu benutzt, sich ein eigenes Haus zu errichten. Wer im früheren Leben einen besseren Job hatte, kann sich also auch ein komfortableres Zuhause errichten. Sigi und Petra zum Beispiel, ein deutsches Paar, bei dem ich anfangs lebte, hatte nur ein einfaches Häuschen, in dem man im Winter einen dicken Mantel tragen musste. Das Haus von Oleg und Anais, mit denen ich später zusammenlebte, war hingegen professionell isoliert und gedämmt, sodass ich im T-Shirt auf dem Boden sitzen und mit den Kindern spielen konnte.
Worin bestanden für Dich in dieser Zeit die größten Herausforderungen?
Wahrscheinlich denkt man jetzt zuerst an die klimatischen Bedingungen. Bei -40° C im Winter und Schneemassen, die vom Himmel fegen, ein Dach zu decken, ist schon ziemlich hart. Einmal hatte ich eine Blasenentzündung und sehr hohes Fieber. Ein Antibiotikum habe ich abgelehnt, weil ich mir nicht sicher war, was sich hinter dem russischen Medikament verbarg, das mir der Dorfarzt verabreichen wollte. Stattdessen bekam ich eine Organmassage, die mir sehr geholfen hat. Natürlich waren für mich aber auch Teile der Ideologie Wissarions gewöhnungsbedürftig: Mit Weltuntergang und tradierten Geschlechterrollen kann ich nicht so viel anfangen. Tatsächlich war es für mich aber am schwersten, jeden Tag an mir selbst zu arbeiten. Diese Arbeit bestand für mich darin, zu erkennen, wie ich fühle und denke und inwiefern sich dadurch mein Ich konstituiert. Zum einen galt es, dieses Ich als mein Ich anzunehmen und nicht zu leugnen. Zum anderen galt es, Negatives zu überwinden und bewusst aus einer positiven Geisteshaltung heraus zu handeln.
Hast Du Dich dort frei gefühlt?
Der Begriff Freiheit ist für mich unheimlich facettenreich und nicht monokausal zu beschreiben. Äußerlich betrachtet war ich nicht frei, denn ich war in einen anstrengenden Arbeitsalltag eingebunden. Wenn man aber von einer innerlichen Freiheit spricht, bin ich diesem Ideal in Sibirien näher gekommen. Innere Freiheit ist für mich das Loslösen von Zwängen und Beengungen, die ihre Triebfeder im eigenen Ich finden. Wenn ich innerlich frei bin, dann hafte ich nicht an meinen eigenen Blockaden. Der Gemeinschaft ging es dabei hauptsächlich darum, sich im Sinne von Wissarions Lehren zu entwickeln. Für mich war das Ziel, mich in Richtung meiner eigenen Überzeugungen und Überlegungen zu bewegen. Es ist die eine Sache, nach Freiheit zu streben. Es ist aber noch eine andere Sache, Freiheit auszuhalten, wenn man sie einmal erfahren hat. Innere Freiheit ist eigentlich wie guter Wein, Tabak oder Bitterschokolade. Das alles ist verdammt lecker, aber es braucht Zeit, sich daran zu gewöhnen.
Wie ging es Dir, als Dir klar wurde, dass Deine Rückkehr kurz bevorsteht?
Zuerst war ich sehr froh. Ich habe mich auf das Zurückkommen gefreut. Gegen Ende meines Aufenthalts in Sibirien hat es mir gefehlt, mich mit Nichtgläubigen auszutauschen.
Und wie waren deine Gefühle zurück in Deutschland? Was fehlt Dir hier?
Mit der Zeit hat es sich eingeschlichen, dass ich das Leben in Sibirien ab und an vermisse. Vor allem in Situationen, die mir schon vor meiner Reise aufgefallen waren: der pöbelnde Busfahrer, die unfreundlichen Jugendlichen, um nur ein paar Klischees zu nennen. Der sibirische Schutzmantel an positiver Energie, Lebensbejahung und innerer Freiheit begann in Deutschland Tag für Tag zu bröckeln. Ich bin mir sicher, dieser Ort in der Taiga ist keiner für mich – jedenfalls nicht lebenslang. Zu sehr genieße ich unsere westliche Kultur mit all ihren Möglichkeiten. Ich will nicht in der sibirischen Pampa wohnen. Aber doch vermisse ich mein Ich von dort. Ich vermisse die Stärke, mit der ich Ich war. Das macht mich nicht wehmütig, manchmal aber vielleicht ein wenig traurig. Generell gibt es mir aber die Aufgabe auf, diese Stärke in mir an dem Ort wiederzuentdecken, an dem ich tatsächlich leben will. Wo will ich tatsächlich leben? Was genau macht diese Stärke aus und warum hat Berlin oder eine andere Stadt die Macht, sie mir zu nehmen?
[accordion open_icon=”camera-retro” closed_icon=”camera-retro”] [toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”] Quelle: Fotos von Jo Plehn [/su_spoiler]