Dimensionen einer Tragödie des aserbaidschanischen Volkes
Von Urs Unkauf
Mit dem Ende der Sowjetunion kam es in zahlreichen Regionen des einstigen Imperiums zu blutigen Konflikten. Einer von ihnen war das Massaker von Chodschali, das heute vor genau 30 Jahren in der Berg-Karabach-Region stattfand.
Der armenisch-aserbaidschanische Konflikt ist einer der ältesten im postsowjetischen Raum. Die Ursachen des Konflikts liegen in den über Jahrhunderte transferierten Gebietsansprüchen Armeniens gegenüber Aserbaidschan, der Konflikt selbst fand mit der Tragödie von Chodschali am 25./26. Februar 1992 einen seiner traurigen Höhepunkte. Für das Verständnis des kulturellen Gedächtnisses Aserbaidschans und diesem Trauma der jungen Nation verspricht ein genauerer Blick auf diese tragischen Ereignisse wichtige Erkenntnisse.
Chodschali ist ein Bezirk der Region Karabach in Aserbaidschan. Dieses Gebiet war Teil der ehemaligen Autonomen Region Berg-Karabach, die innerhalb der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR) eingerichtet wurde und bis zum 26. November 1991 bestand. Diese Autonome Region war eine Verwaltungseinheit, die als Reaktion auf die Gebietsansprüche der Armenischen SSR künstlich geschaffen wurde. Aufgrund der armenischen Ansprüche auf das Gebiet wurden die Verwaltungsgrenzen wissentlich dergestalt definiert, dass die armenische Bevölkerung die Mehrheit bildete. Chodschali war eine der wenigen Siedlungen dieser Verwaltungseinheit, die mehrheitlich von Aserbaidschanern bewohnt wurde. Anfang der 1990er Jahre kam es zu einem bewaffneten Konflikt in der Region, als Armenien aggressive Militäraktionen gegen Aserbaidschan startete, um das Vorhaben zur Besetzung aserbaidschanischer Gebiete zu realisieren. Die unilaterale Abspaltung von Berg-Karabach von Aserbaidschan und die Angliederung an Armenien bildeten den Kern dieses Plans. Infolgedessen besetzte Armenien die Region, einschließlich Chodschali und sieben weiteren aserbaidschanischen Bezirken. Der Krieg, der auf diese Aggression folgte, forderte über 30.000 Menschenleben. Fast eine Million Aserbaidschaner wurden zu Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, weitere Tausende verschwanden spurlos.
Angriff in der Nacht
In der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1992 rückten nach massivem Artilleriebeschuss armenische Streitkräfte und paramilitärische Einheiten mit Unterstützung des 366. motorisierten Infanterieregiments der ehemaligen UdSSR ein, um die Stadt Chodschali zu erobern. Nach dem Beginn des Angriffs versuchten die rund 2.500 verbliebenen Einwohner die Flucht in anliegende Gebiete unter aserbaidschanischer Kontrolle. Die Flüchtenden gerieten jedoch in einen Hinterhalt und wurden entweder durch Schüsse armenischer Militärposten getötet oder in der Nähe der Dörfer Nachtschiwanli und Pirjamal gefangen genommen. Weitere, insbesondere Frauen und Kinder, erfroren auf dem Marsch durch die Berge. Nur wenigen gelang es, die von Aserbaidschan kontrollierte Stadt Aghdam zu erreichen.
Nach den Worten des Journalisten Tschingis Mustafajyev, der zu denjenigen gehörte, die das Gebiet unmittelbar im Anschluss besuchten, befanden sich unter den Toten Dutzende von Kindern zwischen zwei und 15 Jahren, Frauen und Senioren, denen in den meisten Fällen aus nächster Nähe in den Kopf geschossen worden war. Die Lage der Leichen deutet darauf hin, dass diese Menschen gezielt getötet wurden, es gab keine Anzeichen von Widerstand oder Fluchtversuchen. Einige waren zur Seite genommen und einzeln erschossen worden, in vielen Fällen waren ganze Familien getötet worden. Zahlreiche der Toten wiesen Spuren von brutaler Folter und Verstümmelung auf. Das Buch “Khojaly Witness of a War Crime – Armenia in the Dock” beschreibt nicht nur die an der aserbaidschanischen Bevölkerung begangenen Grausamkeiten mit erschreckender Detailtiefe, es lässt auch Überlebende des Massakers als Zeitzeugen zu Wort kommen.
Das größte Massaker um den Karabach-Konflikt
Zweifellos war das, was in Chodschali geschah, das größte Massaker des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts um Karabach. Bei der Erstürmung und Einnahme der Stadt kamen nach verschiedenen, voneinander unabhängigen Quellen mindestens 613 Menschen ums Leben, darunter 106 Frauen, 63 Kinder und 70 ältere Menschen. 1.275 Menschen wurden als Geiseln genommen, während das Schicksal von weiteren 150 Menschen unbekannt ist. Die Stadt wurde von den armenischen Besatzern dem Erdboden gleichgemacht. Im Laufe dieser tragischen Nacht wurden mindestens 487 Einwohner von Chodschali verwundet, darunter 76 Kinder. Acht aserbaidschanische Familien wurden vollständig ausgelöscht, 130 Kinder verloren einen Elternteil und 25 Kinder beide Elternteile.
Der Tragödie von Chodschali wurde angesichts dieser Dimension des Schreckens und der Grausamkeit, mit der die Verbrechen begangen wurden, eine breite internationale Aufmerksamkeit zuteil. Die Ereignisse von Chodschali wurden in zahlreichen Ländern durch Parlamentsbeschlüsse als Völkermord an den Aserbaidschanern anerkannt und gewürdigt. Bisher haben die legislativen Kammern von Bosnien und Herzegowina, Kolumbien, der Tschechischen Republik, Honduras, Jordanien, Mexiko, Pakistan, Panama, Peru, Sudan, Dschibuti, Guatemala, Schottland, Indonesien und Afghanistan sowie von mittlerweile 24 US-Bundesstaaten entsprechende parlamentarische Resolutionen verabschiedet. Die Botschaft der Republik Aserbaidschan in Berlin veranstaltet anlässlich des Gedenktages für die Opfer von Chodschali jährlich im Februar ein internationales Symposium in den Räumlichkeiten der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft. 2020 nahm dort der zwischenzeitlich verstorbene Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann (SPD) als einer der Hauptredner teil. Am 30. Mai 2011 wurde im Lesegarten der Gottfried-Benn-Bibliothek im Berliner Ortsteil Zehlendorf ein Denkmal für die Opfer des Massakers von Chodschali enthüllt.
Mit der Wiederherstellung der territorialen Integrität Aserbaidschans infolge des Sieges über Armenien im 44-Tage-Krieg von 2020 veränderte sich auch die Dimension des Gedenkens an die Opfer von Chodschali. Wenngleich diese Wunde tiefe Spuren in Aserbaidschan hinterlassen hat und es noch lange dauern wird, bis diese verheilt sein wird, so steht die Kontinuität der Bedeutung von Chodschali in der Erinnerungskultur Aserbaidschans einer Aussöhnung in der Zukunft nicht entgegen. Das Gedenken an die Toten von Chodschali ist heute mit dem politischen Bestreben der aserbaidschanischen Regierung verbunden, ein friedliches und sicheres Zusammenleben für alle Nationen im Südkaukasus und insbesondere mit dem Nachbarland Armenien zu schaffen. Die aserbaidschanische Diplomatie hat bereits erste Schritte in diese Richtung unternommen. Vor dem historischen Hintergrund des 30. Jahrestages der Tragödie von Chodschali ist dies eine bemerkenswerte Entwicklung, die Anerkennung und internationale Unterstützung verdient.