Sie häufen sich, die Minus-Vorzeichen in den monatlichen Konjunkturdaten Russlands. Aber es gibt auch positive Signale: Das Inflationstempo sinkt und die Stimmung der Wirtschaft bessert sich, wie Unternehmensbefragungen zeigen.
Im April 2022 war Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion nach ersten Berechnungen des Wirtschaftsministeriums 3,0 Prozent niedriger als im Vorjahresmonat. In den ersten vier Monaten des Jahres 2022 wuchs das Bruttoinlandsprodukt im Vorjahresvergleich aber noch um 1,7 Prozent. Im Mai durchgeführte Befragungen von Unternehmen (Einkaufsmanager-Indizes) wecken zudem Hoffnungen auf eine Stabilisierung der Produktion.
DIW-Präsident Fratzscher erwartet 2022 BIP-Rückgang um 15 bis 20 Prozent
Der voraussichtliche Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts im gesamten Jahr 2022 wird zur Zeit meist auf 5 bis 10 Prozent veranschlagt. Manche Beobachter rechnen aber mit einem noch weit stärkeren Einbruch der Produktion. So meinte Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, in der ZDF-Diskussionsrunde bei „Markus Lanz“ am 31. Mai, die russische Wirtschaft werde in diesem Jahr um 15 bis 20 Prozent schrumpfen (Min. 30:40).
Mitte April erwarteten die deutschen Forschungsinstitute in ihrer „Gemeinschaftsdiagnose“ für das Jahr 2022 noch einen deutlich schwächeren Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts. Im Basis-Szenario rechneten sie mit einer Abnahme um lediglich 6,5 Prozent. In einem Szenario mit einem Stopp der EU-Energieimporte aus Russland schätzten sie den Rückgang auf 12 Prozent. Aktuelle Analysten-Umfragen der russischen Zentralbank und der „Higher School of Economics“ lassen erwarten, dass Russlands Bruttoinlandsprodukt 2022 nur etwa halb so stark sinken wird, wie der DIW-Präsident prognostiziert.
Die Industrieproduktion sank im April erstmals unter ihr Vorjahresniveau
Die folgende Abbildung des Forschungsinstituts der Vnesheconombank zeigt, wie sich die aktuelle Krise bis einschließlich April auf die Industrieproduktion ausgewirkt hat (schwarze Linie: Industrieproduktion insgesamt; hellgrüne Linie: Rohstoffsektor; dunkelgrüne Linie: Verarbeitendes Gewerbe).
Index der Industrieproduktion (Januar 2014=100)
Forschungsinstitut der Vnesheconombank: World Economy and Markets, 03.06.2022
Insgesamt war die Industrieproduktion im März noch 3,0 Prozent höher gewesen als vor einem Jahr. Im April sank sie unter ihr Vorjahresniveau. Sie war 1,6 Prozent niedriger als im April 2021. Ihr saisonbereinigter Rückgang gegenüber dem Vormonat beschleunigte sich im April auf 4,0 Prozent.
Die Produktion im Bereich Bergbau/Förderung von Rohstoffen (hellgrüne Linie), die im Februar und März gegenüber dem Vormonat noch leicht gestiegen war, ging im April gegenüber März scharf zurück (- 6,9 Prozent). Auch sie war 1,6 Prozent niedriger als im April 2021.
Im Verarbeitenden Gewerbe (dunkelgrüne Linie) ist die Produktion bereits im Februar und März gegenüber dem Vormonat gesunken. Im April sank sie gegenüber März um 2,3 Prozent. Sie war 2,1 Prozent niedriger als vor einem Jahr.
Tiefer Einbruch des realen Einzelhandelsumsatzes im April
Die folgende Abbildung macht deutlich, welche Folgen die Krise im März und April auf die realen Umsätze des Einzelhandels und der privaten Dienstleistungen hatte. Sichtbar wird die Krise bisher vor allem im tiefen Einbruch des Einzelhandelsumsatzes im April.
Reallöhne und privater Verbrauch (Jan. 2014=100)
Reallöhne (obere graue Linie); realer Dienstleistungsumsatz (grüne Linie): realer Einzelhandelsumsatz (schwarze Linie).
Forschungsinstitut der Vnesheconombank: World Economy and Markets, 03.06.2022
Der reale Einzelhandelsumsatz (schwarze Linie) sank im April gegenüber dem Vormonat um 10,7 Prozent. Er war 9,7 Prozent niedriger als vor einem Jahr.
Die realen Dienstleistungsumsätze (grüne Linie) sanken im April gegenüber dem Vormonat zwar (- 1,8 Prozent). Sie waren aber noch 3,1 Prozent höher als vor einem Jahr.
Die Reallöhne (obere graue Linie) sind im März gegenüber dem Vormonat noch um 0,6 Prozent gestiegen. Sie waren 3,6 Prozent höher als vor einem Jahr.
Die Einkaufsmanagerindizes haben sich im Mai aber weiter erholt
Für die Produktionsentwicklung im Mai wecken die von „S&P Global“ durch Befragung von Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes und des Dienstleistungsbereichs ermittelten Einkaufsmanager-Indizes aber Hoffnungen. Der „Russia Manufacturing PMI“ und der „Russia Services PMI“ haben sich im Mai weiter erholt (siehe auch bne Intellinews).
Der „Composite Output Index“ für die russische Wirtschaft lag im Mai nur noch wenig unter der „Wachstumsschwelle“ von 50 Indexpunkten. Nach einem scharfen Einbruch im März erholte er sich im April auf 44,5 Indexpunkte und stieg im Mai weiter auf 48,2 Indexpunkte.
In der folgenden Abbildung vergleicht S&P Global die Entwicklung des „Composite Output Index“ mit den Veränderungen des vierteljährlichen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahresquartal (orange Linie). Im ersten Quartal 2022 war das BIP noch 3,5 Prozent höher als im ersten Quartal 2021.
S&P Global: Russia Services PMI, 03.06.2022
Ein weiterer Lichtblick: Seit Anfang Mai weitgehende Preisstabilität
Der Index der Verbraucherpreise ist, so das Forschungsinstitut der Vnesheconombank, von Anfang Mai bis zum 27. Mai nur um 0,1 Prozent gestiegen. Die jährliche Inflationsrate verringerte sich von 17,8 Prozent im April bis Ende Mai auf 17,4 Prozent.
Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Forschungsinstitut der Vnesheconombank: World Economy and Markets, 03.06.2022
Verbesserte Erwartungen bei Analysten-Umfrage der Zentralbank
Orientiert man sich am Ergebnis einer in der letzten Mai-Woche von der russischen Zentralbank durchgeführten Umfrage bei 37 russischen und ausländischen Banken und Forschungsinstituten ist 2022 nur mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 7,5 Prozent zu rechnen (GDP, dritte Zeile der folgenden Tabelle). Die vorangegangene Umfrage der Zentralbank im April hatte als Mittelwert der Prognosen noch einen stärkeren Rückgang des BIP um 9,2 Prozent ergeben.
Auch die Erwartungen zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit haben sich etwas aufgehellt. Die Arbeitslosenquote dürfte bis zum Dezember laut der Umfrage auf 6,5 Prozent steigen (bisher: 6,9 Prozent).
Die Inflationsentwicklung wird jetzt merklich günstiger eingeschätzt. Für Dezember 2022 wird „nur“ noch eine jährliche Inflationsrate von 17 Prozent erwartet (bisher: 22 Prozent).
Ergebnisse der Umfrage der russischen Zentralbank
Bank of Russia: Macroeconomic survey of the Bank of Russia, 02.06.2022
HSE-Umfrage: 2022 ist ein BIP-Rückgang um 8,4 Prozent zu erwarten
Eine kurz zuvor in der ersten Mai-Hälfte durchgeführte Umfrage des Konjunkturforschungszentrums der Moskauer „Higher School of Economics“ bei 23 russischen und ausländischen Banken und Forschungsinstituten erbrachte etwas ungünstigere Ergebnisse als die jüngste Zentralbankumfrage.
Laut der HSE-Umfrage ist 2022 mit einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 8,4 Prozent zu rechnen. Damit steht die russische Wirtschaft, so die HSE, im langfristigen Vergleich vor der tiefsten Rezession seit 1994.
Zudem ist keine rasche Erholung zu erwarten. Das Produktionsniveau des Jahres 2021 wird laut der Umfrage wohl erst 2028 wieder erreicht werden. Im Durchschnitt wird damit gerechnet, dass das Bruttoinlandsprodukt nach dem diesjährigen Einbruch im nächsten Jahr noch etwas weiter sinken dürfte (- 0,4 Prozent) und sich danach voraussichtlich um rund 2 Prozent pro Jahr erholt.
Ergebnisse der Umfrage der „Higher School of Economics“
Sergei Smirnov; Higher School of Economics: Consensus Forecast: Survey of independent experts: Radical revision of forecasts; Comments on state and business, 20.05.2022
Die Arbeitslosenquote, die laut HSE-Umfrage im laufenden Jahr auf 6,6 Prozent steigen dürfte, wird 2023 aber beginnen zu sinken (bis 2026).
Nach einem Anstieg der Verbraucherpreise um 20,1 Prozent im Jahr 2022 erwarten die Befragten, dass schon 2025 ein Rückgang der Inflationsrate auf die von der Zentralbank angestrebte Rate von rund 4 Prozent erreicht wird.
Der Leitzins, den die russische Zentralbank Ende Februar zur Stabilisierung des Rubel-Kurses von 9,5 auf 20 Prozent heraufgesetzt hatte, inzwischen aber in drei Schritten wieder auf 11 Prozent senkte, wird laut der HSE-Umfrage im Jahresdurchschnitt 2022 11,74 Prozent betragen.
Die HSE stellt heraus, dass sich die BIP-Prognose für 2022 seit der letzten Umfrage Mitte Februar „dramatisch“ verschlechtert habe. Damals sei für dieses Jahr noch ein Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 2,4 Prozent erwartet worden und für 2023 ein Anstieg um 2,0 Prozent.
Die Wachstumserwartungen der Analysten für den weiteren Prognosezeitraum bis 2028 hätten sich jedoch praktisch nicht verändert. Die Befragten gingen weiterhin davon aus, dass die russische Wirtschaft zu einem Wachstum von rund 2 Prozent pro Jahr zurückkehren werde.
RAS-Institut rechnet auch mit langsamer Erholung
Die Konjunkturforschungsabteilung „ECFOR“ der russischen Akademie der Wissenschaften erwartet in ihrer am 26. Mai abgeschlossenen vierteljährlichen Konjunkturprognose, dass die Erholung der russischen Wirtschaft ähnlich lange dauern wird wie die HSE-Umfrage erwarten lässt. Nach einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 7,4 Prozent im Jahr 2022 geht auch die RAS-Prognose davon aus, dass sich die russische Wirtschaft nur langsam erholt (2023: + 0,8 Prozent; 2024: + 1,8 Prozent; 2025: + 1,7 Prozent).
Wachstumsprognosen 2022 bis 2023
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
Deutsche Bundesbank: Russland vor dauerhaften Wohlstandsverlusten
In ihrem Monatsbericht für Mai 2022 hat sich auch die Deutsche Bundesbank zur längerfristigen Entwicklung der russischen Wirtschaft geäußert. Wohl vor allem wegen des weltweit beschleunigten Preisauftriebs analysierte sie die Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf die russische Wirtschaft und zog eine Bilanz der Produktionsentwicklung seit dem Jahr 2000.
Die Bundesbank erwartet für die russische Wirtschaft nicht nur kurzfristig „größere Aktivitätseinbußen“, sondern auch längerfristig „massive Schäden“. Aufgrund der weitreichenden Sanktionen westlicher Staaten sowie der Entscheidungen vieler ausländischer Unternehmen, ihre Handelsbeziehungen zu Russland oder ihre Geschäftstätigkeiten in Russland einzustellen, steht Russlands Wirtschaft nach Einschätzung der Bundesbank vor einer „schweren Krise“. Das Land steuere darauf zu, einen beachtlichen Teil seines Wohlstands auf Dauer zu verlieren.
Die folgende Abbildung der Bundesbank zeigt den vom Internationalen Währungsfonds (IWF) in seinem „World Economic Outlook“ vom April 2022 prognostizierten Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 8,5 Prozent im Jahr 2022 und um weitere 2,3 Prozent im Jahr 2023. Das Ausmaß der bevorstehenden Rezession dürfte nach Einschätzung der Bundesbank sogar den scharfen BIP- Rückgang während der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2009 deutlich übertreffen.
Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Mai 2022
Russlands Bruttoinlandsprodukt stieg seit 2013 nur um knapp 1 Prozent jährlich
Bereits von 2013 bis 2021 ist die russische Wirtschaft, so die Bundesbank, nur um 0,9 Prozent pro Jahr gewachsen.
Pro Kopf sei Russlands Wirtschaftsleistung (in US-Dollar und zu laufenden Preisen gerechnet) seit 2013 sogar von 15.900 US-$ auf 12.200 US-$ gesunken. Hinter diesem Einkommensverlust stehe insbesondere, dass sich in dieser Zeit der Ölpreis und damit die Exporteinnahmen Russlands deutlich verringerten.
Russland blieb von Rohstoff-Ausfuhr und Hochtechnologie-Einfuhr abhängig
Die Bemühungen der russischen Regierung, die Industrie und andere Branchen außerhalb des Rohstoffsektors zu fördern, um die Abhängigkeit von Energieausfuhren zu verringern, haben sich nach Meinung der Bundesbank als „wenig erfolgreich“ erwiesen. Mit ihrer „Politik der Importsubstitution“ sei es der Regierung vor allem nicht gelungen, im Hochtechnologie-Bereich eine inländische Produktion aufzubauen, die westliche Qualitätsstandards erreiche. Russland bleibe stark von ausländischen Vorleistungsgütern abhängig.
Internationale Isolation und „Brain-Drain“ belasten die Wirtschaft
Die jetzt verhängten Exportverbote westlicher Länder und die freiwilligen Lieferbeschränkungen vieler westlicher Unternehmen dürften nach Einschätzung der Bundesbank somit speziell die russische Industrie empfindlich treffen. In einer aktuellen Umfrage der Zentralbank hätten auch fast 40 Prozent der russischen Industrieunternehmen geäußert, sie hätten Probleme, alternative Anbieter zu finden. Insgesamt drohen der russischen Industrie, so die Bundesbank, infolge der weitgehenden internationalen Isolation „hohe Effizienzverluste und technologischer Rückschritt“.
Im Dienstleistungsbereich der russischen Wirtschaft sieht die Bundesbank auch auf aufstrebende Branchen wie die IT-Branche oder das Finanzwesen große Belastungen zukommen. Bereits in den letzten Jahren habe Russland viele hoch qualifizierte Arbeitskräfte an das Ausland verloren. Es zeichne sich ab, dass sich dieser Trend wegen des Ukraine-Krieges nochmals verstärke.
Die Abhängigkeit vom Energieexport dürfte sogar noch wachsen
Nach Einschätzung der Bundesbank dürfte die russische Wirtschaft „in den nächsten Jahren“ wohl noch stärker als bisher auf die Erlöse aus dem Öl- und Gasexport angewiesen sein. Allerdings müsse Russland schon jetzt bei den Ölexporten hohe Preisabschläge hinnehmen.
Außerdem erwartet die Bundesbank, dass Russland wegen der gedämpften Nachfrage schon bald gezwungen sein könnte, seine Ölförderung erheblich zu drosseln. Der jüngsten Prognose des „Oxford Institute for Energy Studies“ zufolge werde sich die russische Ölproduktion von 11 Millionen Barrel pro Tag (mb/d) vor dem Krieg bis Ende 2022 auf etwa 9 mb/d verringern. Durch das geplante EU-Embargo könnte sie bis zum Jahresende sogar auf unter 7 mb/d gedrückt werden.
Umfang künftiger Gaslieferungen nach China “unklar“
Zu den Perspektiven der russischen Gasexporte, die bisher noch stärker als die Ölexporte auf Europa ausgerichtet waren, merkt die Bundesbank an, dass Deutschland, der bislang wichtigste Gasabnehmer Russlands, bereits bis 2024 von russischem Gas unabhängig werden möchte.
Nach China fließe bisher nur ein sehr kleiner Teil der russischen Gasexporte. Die großen westsibirischen Yamal-Gasfelder, aus denen Europa beliefert werde, seien überhaupt noch nicht durch Pipelines mit Asien verbunden. Dies würde sich erst mit der geplanten Pipeline „Power of Siberia 2“ ändern. Nach Einschätzung der Bundesbank dürften die Verhandlungen zwischen China und Russland über den Bau der Leitung jedoch noch einige Jahre dauern. Zudem sei unklar, ob Russland dieses „kolossale Infrastrukturprojekt“ angesichts der Sanktionen überhaupt „stemmen“ könne.
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
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