Tiefe Rezession bei hoher Inflation erwartet

Wachstumsprognosen deuten auf Rezession hin

Sie mehren sich, die negativen Signale für die Entwicklung der russischen Wirtschaft. Zahlreiche Banken und Forschungsinstitute rechnen inzwischen mit einem tiefen Einbruch der Produktion bei gleichzeitig stark beschleunigter Inflation. Das Konjunkturforschungszentrum der Moskauer „Higher School of Economics“ sieht bei den Frühindikatoren bereits „erste Anzeichen einer Rezession“. Gleichzeitig hat sich der Anstieg der Verbraucherpreise sprunghaft beschleunigt.

Die Zentralbank hat ihren Leitzins bereits Ende Februar von 9,5 auf 20 Prozent angehoben, um die Finanzmärkte zu stabilisieren. Nach der Verhängung scharfer Sanktionen gegen Russland hatten der Rubel und russische Aktien stark an Wert verloren. Börsen wurden geschlossen.

Zentralbank: „Radikal veränderte äußere Bedingungen“

Am letzten Freitag stand eine planmäßige Leitzinsentscheidung der Zentralbank an. Wie von vielen erwartet erhöhte sie ihren Leitzins nicht weiter.

In ihrer Pressemitteilung stellt die Zentralbank heraus, dass die scharfe Erhöhung des Leitzinses am 28. Februar vor dem Hintergrund „radikal veränderter äußerer Bedingungen“ erfolgt sei. Die „drastische Veränderung der äußeren Bedingungen für die russische Wirtschaft“, die Ende Februar eingetreten sei, habe die finanzielle Stabilität bedroht. Mit der Erhöhung des Leitzinses und der Anordnung von Kapitalverkehrskontrollen habe die Zentralbank einen Beitrag zu einem stabilen Funktionieren des russischen Finanzsystems geleistet.

„Strukturelle Anpassungen“ von hoher Inflation begleitet

Weiterhin meint die Zentralbank, die russische Wirtschaft trete in eine „Phase weitreichender struktureller Anpassungen“ ein. Diese Phase werde von einer zeitlich beschränkten aber unvermeidbaren Periode hoher Inflation begleitet werden, die hauptsächlich mit einer Anpassung der relativen Preise vieler Waren und Dienstleistungen verbunden sei. Gleichzeitig versichert die Zentralbank, ihre Geldpolitik werde die Voraussetzungen für eine allmähliche Anpassung der Wirtschaft an die neuen Bedingungen und eine Rückkehr der jährlichen Inflationsrate auf 4 Prozent im Jahr 2024 schaffen. Bisher wollte die Zentralbank dieses Ziel schon 2023 erreichen, so die mittelfristige Prognose der Zentralbank vom 11. Februar.

Welche „strukturellen Anpassungen“ die russische Wirtschaft vollziehen muss, beschreibt die Zentralbank nicht näher. Gemeint sind wohl Anpassungen an die Folgen der gegen Russland verhängten Sanktionen, die vor allem die außenwirtschaftlichen Beziehungen Russlands treffen.

Zentralbank erwartet einen BIP-Rückgang, beziffert ihn aber nicht

Zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stellt die Zentralbank fest, dass einige Frühindikatoren, einschließlich der eigenen Geschäftsklima-Umfrage, auf eine Verschlechterung der Lage der russischen Wirtschaft hindeuteten. Aufgrund der gegenüber Russland verhängten Beschränkungen des Außenhandels und im Finanzbereich berichteten viele Wirtschaftsbereiche über Probleme bei Produktion und Logistik. Durch die scharf gestiegene Unsicherheit würden Stimmung und Erwartungen von Haushalten und Unternehmen stark belastet. Die von der Regierung und der Zentralbank beschlossenen Maßnahmen würden das Ausmaß des Rückgangs der Produktion aber „begrenzen“.

Zentralbankpräsidentin Nabiullina betonte in ihrem Statement, die starke Erhöhung des Leitzinses am 28. Februar sei eine „temporäre Anti-Krisen-Maßnahme“. Wenn sich die Lage ausreichend stabilisiert habe, werde der Zins gesenkt.

Quantifizierte Prognosen zum Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion oder zum Anstieg der Verbraucherpreise veröffentlichte die Zentralbank noch nicht. Nabiullina meinte lediglich, dass die Inflation in diesem und sehr wahrscheinlich auch im nächsten Jahr die bisherigen Schätzungen der Zentralbank übersteigen wird. Das Bruttoinlandsprodukt werde „in den nächsten Quartalen“ sinken. Die Zentralbankpräsidentin wies darauf hin, dass die Bank ihre „mittelfristige Prognose“ zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung anlässlich des nächsten Leitzinsentscheides am 29. April aktualisieren wird.

Der Anstieg der Verbraucherpreise erreichte zuletzt 12,6 Prozent

Laut dem Statistikamt Rosstat hat sich der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise in der Woche vom 05. bis zum 11. März auf 12,6 Prozent beschleunigt.  Das Forschungsinstitut der Vnesheconombank veröffentlichte dazu in seinem Wochenbericht folgende Abbildung.

Anstieg der Verbraucherpreise
gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Vnesheconombank Institute: World Economy and Markets Review; 18.03.2022

Im Februar 2022 hatte die Inflationsrate im Vergleich zum Vorjahresmonat 9,2 Prozent erreicht. Dabei beschleunigte sich der Preisanstieg bei Lebensmitteln auf 11,5 Prozent. Nicht-Lebensmittel verteuerten sich gegenüber Februar 2021 um 9,0 Prozent. Auch die Preise von Dienstleistungen stiegen schneller als bisher. Ihr Anstieg war mit 6,1 Prozent aber weiterhin unterdurchschnittlich.

Als aktuell wichtigste Inflationstreiber nennt das VEB-Institut zum einen die Abwertung des Rubels, die die Einfuhrpreise verteuert. Außerdem hätten die gestiegenen Inflationserwartungen der Bevölkerung die Nachfrage in die Höhe getrieben.

Zentralbankpräsidentin Nabiullina nahm in ihrem Statement zum Leitzinsentscheid am Freitag auch zu der starken Beschleunigung des Preisanstiegs Ende Februar und Anfang März Stellung. Der Preisauftrieb sei hauptsächlich durch die stark gestiegene Nachfrage nach Nicht-Lebensmitteln hervorgerufen worden. Die Bevölkerung habe vor allem Haushaltsgeräte, Kraftfahrzeuge, Elektro-Geräte und Möbel gekauft. Die Verbraucher befürchteten, dass sich die Breite des Angebots und die Preiswürdigkeit bei diesen Produkten drastisch verschlechtern würden. Als Ursachen dafür sähen die Verbraucher die verhängten Sanktionen, die Abwanderung einiger ausländischer Anbieter und die Schwäche des Rubels.

Nabiullina wies auf „Hamsterkäufe“ hin. Verstärkt nachgefragt worden seien auch nicht-verderbliche Lebensmittel einschließlich Getreideprodukten, Mehl, Nudeln und Zucker, die hauptsächlich in Russland aus heimischer Produktion hergestellt würden. Wenn der Nachfragestoß in diesem Segment nachlasse, würden sich die Preise normalisieren oder sogar niedriger sein.

Kiel Institut für Weltwirtschaft erwartet zwei Jahre Rezession in Russland

Das Kieler Institut für Weltwirtschaft widmet in seiner am Donnerstag veröffentlichten Frühjahrsprognose für die Weltwirtschaft („Verlangsamte Expansion bei hoher Inflation“) auch der russischen Wirtschaft ein kurzes Kapitel. Außerdem analysiert es in einem besonderen Kapitel die weltweiten Erfahrungen zur Wirksamkeit von Sanktionen.

In Russland erwartet das Kieler Institut im Jahr 2022 einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 4,5 Prozent. Einige andere Prognosen rechnen mit einem noch schärferen Einbruch als das IfW, gehen dann aber bereits für 2023 von einer leichten Erholung der Produktion aus. Das Kieler Institut rechnet hingegen 2023 mit einem weiteren Rückgang des BIP um 2,6 Prozent.

Wachstumsaussichten auf längere Sicht massiv verschlechtert

Das IfW sieht Russlands Wachstumsaussichten auf längere Sicht „massiv verschlechtert“. Es verweist dazu auf den „Exodus westlicher Unternehmen“. Viele Unternehmen hätten aufgrund der Sanktionen, häufiger aber noch als freiwillige Konsequenz aus der geopolitischen Situation, ihre Aktivitäten in Russland eingestellt oder stark reduziert:

„Der damit verbundene Rückgang des internationalen Austauschs von Waren, aber auch von Dienstleistungen und Knowhow wird nicht nur kurzfristig zu einem schweren Wirtschaftseinbruch beitragen, sondern verschlechtert auch die Wachstumsaussichten für die russische Wirtschaft auf längere Sicht massiv.“

Die Inflation steigt 2022 auf 25 Prozent

Gleichzeitig erwartet das IfW einen sehr starken Anstieg der Inflation. Viele Produkte dürften als Folge von fehlenden Importen und damit verbundenen Problemen in den Produktionsketten zur „Mangelware“ werden. Zum anderen seien Lohnsteigerungen und höhere Sozialleistungen zu erwarten, um den Unmut der Bevölkerung zu mindern. Letztlich würden diese aber durch die Notenpresse finanziert werden.

Das IfW rechnet deswegen damit, dass sich der Anstieg der Verbraucherpreise im Jahresdurchschnitt 2022 auf 25 Prozent beschleunigt und 2023 noch 18 Prozent beträgt.

Schwächerer Inflationsanstieg, aber noch tiefere Rezession

Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle erwartet eine weniger stark steigende Inflation in Russland als das Kieler Institut. Nach einem Anstieg der Verbraucherpreise um 18 Prozent im Jahr 2022 rechnet es im Jahr 2023 mit einem Rückgang des Inflationstempos auf 10 Prozent.

Der Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Produktion wird nach Einschätzung des IWH mit einem Rückgang des BIP um 8 Prozent (2022) und 1,5 Prozent (2023) noch tiefer sein als nach Einschätzung des Kieler Instituts (- 4,5 Prozent und – 2,6 Prozent).

Vergleich: „Wohlfahrtsindikatoren“ für Russland, Polen und die Ukraine

In einem besonderen Kapitel („Die russische Wirtschaft ist strukturell schwach“) vergleicht das IWH die Entwicklung der russischen Wirtschaft mit der Entwicklung der Wirtschaft in Polen, der Ukraine und Deutschland. Es kommt unter anderem zu folgenden Ergebnissen:

„Der Lebensstandard ist in Russland in den vergangenen Jahren deutlich hinter dem anderer Transformationsländer zurückgeblieben. Während das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner vor zehn Jahren zum Beispiel noch über dem Polens lag, ist es in den vergangenen Jahren phasenweise gesunken und hinter das polnische zurückgefallen (vgl. Abbildung K1.1). Auch bei anderen Wohlfahrtsindikatoren, wie etwa der Lebenserwartung bei Geburt besteht eine deutliche Lücke gegenüber Polen oder Deutschland (vgl. Abbildung K1.2).“

Institut für Wirtschaftsforschung Halle: Konjunktur aktuell: Preisschock gefährdet Erholung der deutschen Wirtschaft, PDF; Kasten 1: Die russische Wirtschaft ist strukturell schwach; 17.03.2022

Am 23. März wird das Münchner ifo Institut seine Frühjahrsprognose veröffentlichen.

FocusEconomics Consensus Forecast berichtet jetzt wöchentlich

Einen Überblick über aktuelle weitere ausländische Prognosen zur Entwicklung der russischen Wirtschaft bietet das Beratungsunternehmen FocusEconomics mit der Veröffentlichung seines „Ukraine Conflict Weekly Update“. Die russische Wirtschaftszeitung „Kommersant“ berichtete über die Ausgabe vom 18. März.

Die folgende Tabelle zeigt 15 von FocusEconomics ermittelte Prognosen von Banken und Forschungsinstituten, die alle einen Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts in Russland im Jahr 2022 erwarten. Den schwächsten Rückgang prognostiziert Oxford Economics (- 0,7 Prozent), den stärksten Moody’s Analytics (- 14,6 Prozent). Als arithmetisches Mittel der Prognosen („Consensus“) errechnete FocusEconomics einen Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts um 5,7 Prozent im Jahr 2022. 2023 wird im Durchschnitt mit einem weiteren, aber nur noch schwachen Rückgang gerechnet (- 1,0 Prozent).

Der Anstieg der Verbraucherpreise wird sich im Durchschnitt der Prognosen im Jahr 2022 auf 18,2 Prozent beschleunigen und im Jahr 2023 noch 13,9 Prozent erreichen.

Reales Bruttoinlandsprodukt und Verbraucherpreisindex

Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent

FocusEconomics: Ukraine Conflict Weekly Update, 16.03.2022

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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