Russlands Wirtschaft am Jahreswechsel

Auf rasche Erholung im alten, folgt schwächeres Wachstum im neuen Jahr

Die Produktion der russischen Wirtschaft ist 2021 voraussichtlich um rund 4,5 Prozent gewachsen. Dieser Prognose der Zentralbank schloss sich auch Präsident Putin in seiner Pressekonferenz am 23. Dezember an. 2022 erwartet die russische Wirtschaft aber wohl ein deutlich schwächeres Wachstum von rund 2,5 Prozent.

Banken und Forschungsinstitute rechnen laut der jüngsten Interfax-Umfrage im Durchschnitt mit einem Wachstum von 4,4 Prozent im Jahr 2021. Der Produktionsrückgang im Corona-Krisenjahr 2020, der nach neuen Berechnungen des Statistikamtes nur 2,7 Prozent betrug, wurde rasch aufgeholt. Die Arbeitslosenquote ist auf einen historischen Tiefstand gesunken. Manche konstatieren bereits eine inflationstreibende „Überhitzung“ des Arbeitsmarktes. Trotz des Anstiegs der Inflationsrate auf 8,4 Prozent stiegen im letzten Jahr auch die real verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte. Ihre Einkommensverluste seit 2013 sind aber noch längst nicht wettgemacht. 2022 wird meist ein Rückgang des Wirtschaftswachstums auf rund 2,5 Prozent erwartet.

Rasche Erholung der Produktion von der Corona-Rezession

Präsident Putin unterstrich in der Pressekonferenz, dass sich Russland schneller als viele andere Länder vom Rückgang der Produktion im Corona-Krisenjahr 2020 erholt hat (NTV.de-Video mit deutscher Übersetzung; Redetext in Englisch). Der Staatspräsident zeigte sich mit der Arbeit der Regierung und auch der Zentralbank zufrieden.

„I believe that both the Government and the Central Bank deserve – let us be modest – an acceptable score. The results are positive.“

Die Sberbank demonstrierte die rasche Erholung der Produktion der russischen Wirtschaft im internationalen Vergleich mit folgender Abbildung. Sie zeigt, wie sich die gesamtwirtschaftliche Produktion in Russland und einigen anderen Staaten in den letzten zwei Jahren entwickelt hat. In Russland war das Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal 2021 bereits 1,3 Prozent höher als vor der Corona-Krise im dritten Quartal 2019. Niedriger als vor zwei Jahren war das BIP hingegen zum Beispiel noch in Deutschland (- 1,2 Prozent), in England (- 2,1 Prozent) und in der Tschechischen Republik (- 2,5 Prozent).

Reales Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in Prozent im Vergleich 3. Quartal 2021/3. Quartal 2019

Sberbank: Global Economy News; Result of 2021 and expectations for 2022; 27.12.2021

Ein etwas stärkeres Wirtschaftswachstum als Russland erreichten seit dem dritten Quartal 2019 die USA (+ 1,9 Prozent). Viel stärker stieg die Produktion in China (+ 9,8 Prozent) und in der Türkei (+ 13,4 Prozent).

Weniger Arbeitslose und mehr Beschäftigte

Neben der gesamtwirtschaftlichen Produktion hat sich vor allem der Arbeitsmarkt 2021 günstig entwickelt. Das bestätitgen die am 29. Dezember vom Statistikamt Rosstat veröffentlichten Konjunkturdaten für November.

  • Die Arbeitslosenquote liegt seit September mit 4,3 Prozent auf einem historischen Tiefstand. Sie war im August 2020 auf 6,4 Prozent gestiegen.
  • Die Zahl der Beschäftigten war im November mit 72,2 Millionen um 1,5 Millionen höher als vor einem Jahr (gestrichelte Linie in der rechten Abbildung: Beschäftigtenzahl ohne Saisonbereinigung).

Arbeitslosenquote in Prozent und Zahl der Beschäftigten in Millionen

VTB Capital Research: Output & Demand: Investment and exports-led growth ahead; 30.12.2021

Inzwischen wird allerdings der Mangel an Arbeitskräften zu einem wachsenden Problem. Zentralbankpräsidentin Nabiullina stellte bei der letzten Leitzinserhöhung fest, der inflationäre Druck vom Arbeitsmarkt habe sich verstärkt. In vielen Industriebereichen wachse die Nachfrage nach Arbeitskräften, die Zahl der offenen Stellen habe ein Rekordniveau erreicht.

Der Anstieg der Reallöhne wird von der beschleunigten Inflation gebremst

Die Reallöhne stiegen in den ersten 10 Monaten des Jahres 2021 im Vorjahresvergleich weiter um 2,7 Prozent. Im Oktober wurde das Vorjahresniveau allerdings nur noch um 0,6 Prozent übertroffen. Die Prognose der Regierung vom 21. September, dass die Reallöhne im Jahr 2021 um 3,1 Prozent steigen, dürfte nicht erreicht werden.

Dazu trägt der unerwartet starke Anstieg der Inflationsrate bei. Im November hat sich der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise auf 8,4 Prozent beschleunigt (Monatsbericht der Zentralbank, engl.). Laut vorläufiger Rosstat-Schätzung waren die Verbraucherpreise auch im Dezember 8,4 Prozent höher als vor einem Jahr.

Die real verfügbaren Einkommen haben noch viel Aufholbedarf

Präsident Putin erwähnte in seiner Rede auch, nach „Einschätzung von Experten“ würden die real verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte im Jahr 2021 um rund 3,5 Prozent steigen. Eine Banken-Umfrage der Nachrichtenagentur RIA Novosti im November ergab hingegen, dass für das Jahr 2021 nur mit einem Anstieg der real verfügbaren Einkommen um 2,6 Prozent gerechnet wird.

Rosstat veröffentlichte bisher Ergebnisse für die ersten neun Monate. Danach stiegen die real verfügbaren Einkommen im Vorjahresvergleich insgesamt um 4,1 Prozent. Die Renten waren in den ersten 11 Monaten laut Rosstat real allerdings 1,0 Prozent niedriger als im Vorjahr (siehe Olga Belenkaya, Finam.ru).

Im Krisenjahr 2020 waren die real verfügbaren Haushaltseinkommen um 2,8 Prozent gesunken. In der folgenden Abbildung der ING Bank zeigt die orangefarbene Markierung diesen Rückgang. Die Einkommen im staatlichen Sektor und die staatlichen Geldleistungen an die privaten Haushalte wurden 2020 zwar erhöht und stellten damit einen positiven Wachstumsbeitrag dar(dunkelblauer Säulenabschnitt). Der Rückgang der Einkommen im privaten Sektor (hellblauer Säulenabschnitt) war im Krisenjahr aber so stark, dass die real verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte im Jahr 2020 insgesamt um 2,8 Prozent sanken.

Real verfügbare Einkommen der privaten Haushalte

Orange Linie: Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent

ING Bank, Amsterdam: Directional Economics EMEA – Core Problems; 13.12.2021

Im Jahr 2021 dürften die Einkommen nach Einschätzung der ING Bank nicht um 3,5 Prozent, sondern nur um 2,5 Prozent gestiegen sein. Davon dürften laut ING Bank 1,9 Prozentpunkte höheren Einkommen im staatlichen Sektor und höheren staatlichen Geldleistungen an die privaten Haushalte zu verdanken sein. Der Anstieg der Einkommen im privaten Sektor dürfte nur einen Wachstumsbeitrag von 0,6 Prozentpunkten stellen.

Die Abbildung zeigt, dass die real verfügbaren Einkommen in den Jahren 2014 bis 2017 stark gesunken sind. 2018 und 2019 erholten sie sich nur wenig. Auch nach dem Anstieg im Jahr 2021 besteht noch viel Aufholbedarf. Nach Berechnungen des Moskauer „Zentrums für makroökonomische Analyse und kurzfristige Prognose, CMASF“ waren die real verfügbaren Einkommen im dritten Quartal 2021 saisonbereinigt noch 6,9 Prozent niedriger als im ersten Quartal 2013 (CMASF: Analysis of macroeconomic trends; Seite 23). Auf weitere staatliche Einkommenshilfen können die privaten Haushalte offenbar nicht hoffen. Dmitry Dolgin, Chef-Volkswirt für Russland der ING Bank, weist darauf hin, dass im Entwurf des Staatshaushalts für den Zeitraum 2022 bis 2024 keine weiteren staatlichen Maßnahmen zur Erhöhung der verfügbaren Einkommen vorgesehen sind.

Wie verlief die Erholung der russischen Wirtschaft im Jahr 2021?

Die Sberbank zeigt mit der folgenden Abbildung der Entwicklung ihres „Indikators für die Wirtschaftsaktivität“ den Verlauf der Erholung der Produktion der russischen Wirtschaft bis einschließlich Oktober. Bereits im April 2021 war der Indikator (schwarze Linie) etwas höher als im Dezember 2019. Danach stieg er allerdings kaum weiter an.

Die Wirtschaft erholte sich schnell

Schwarze Linie: Sberbank-Indikator für die Wirtschaftsaktivität

Grüne Säulen: Veränderungen des Indikators gegenüber dem Vormonat in Prozent

Sberbank: Global Economy News; Result of 2021 and expectations for 2022; 27.12.2021

Von Mai bis einschließlich August 2021 stagnierte der Sberbank-Indikator der Wirtschaftsaktivität fast.

Dmitry Belousov, Abteilungs-Direktor des „Zentrums für makroökonomische Analyse und kurzfristige Progonse, CMASF“, meinte in einem Interview zur diesjährigen Produktionsentwicklung, zwischen dem zweiten und dem dritten Quartal sei der in der Erholungsphase erreichte Wachstumstrend der russischen Wirtschaft gebrochen worden. Russlands Wirtschaft sei zu ihrem „favorisierten“ jährlichen Produktionswachstum von 1,5 bis 2 Prozent zurückgekehrt.

Im Oktober beschleunigte sich das im September begonnene Wachstum des Sberbank-Indikators wieder etwas. Dazu passt, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion nach Berechnungen des Wirtschaftsministeriums im Oktober gegenüber September saisonbereinigt um 0,7 Prozent stieg.

Wirtschaftsministerium: Im November schwächte sich das Wachstum ab

Zur weiteren Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im November veröffentlichte das Wirtschaftsministerium am 29. Dezember eine erste Schätzung. Danach stieg das Bruttoinlandsprodukt im November gegenüber dem Vormonat saisonbereinigt nur noch um 0,3 Prozent.

Im Vergleich zum Vorjahresmonat ergab sich im November laut Wirtschaftsministerium ein Anstieg der Produktion von 5,2 Prozent. Damit war das Bruttoinlandsprodukt in den ersten elf Monaten 2021 um 4,7 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum.

Kräftige Impulse für das BIP-Wachstum kamen im November vor allem von der Bauproduktion (+ 6,9 Prozent gegenüber November 2020) und der Agrarproduktion (+ 12,9 Prozent). Die Bauproduktion wurde durch die Gewährung von staatlichen Subventionen für Hypotheken angeregt. Ursache für das kräftige Wachstum in der Landwirtschaft im November war eine witterungsbedingte Verschiebung von Erntearbeiten. Für die ersten elf Monate 2021 ergab sich im Vorjahresvergleich ein Rückgang der Agrarproduktion um 1,1 Prozent.

Der Verbrauch der privaten Haushalte hat sich nach Berechnungen des Wirtschaftsministeriums im November etwas abgeschwächt. Der reale Umsatz in den Bereichen Einzelhandel, Gastgewerbe und Dienstleistungen für private Haushalte war im November 0,1 Prozent niedriger als im Oktober. Im Zeitraum August bis Oktober war er hingegen noch monatlich um durchschnittlich 0,6 Prozent gestiegen.

Wirtschaftsminister Reschetnikow meinte Mitte Dezember laut Interfax, das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion im Jahr 2021 dürfte mit 4,3 Prozent die offizielle Regierungsprognose von 4,2 Prozent überschreiten. Für 2022 bis 2024 erwartet die Regierung ein jährliches Wirtschaftswachstum von 3,0 Prozent

Auch der Einkaufsmanager-Index signalisiert derzeit Stagnation

Hinweise auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung im Dezember geben Befragungen von Unternehmen durch IHS Markit. IHS Markit veröffentlicht aufgrund der Umfragen monatlich „Einkaufsmanager-Indizes“ für das „Verarbeitende Gewerbe“ (Purchasing Manager Index Manufacturing) und für Dienstleistungsunternehmen (PMI Services).

Ermittelt wird auch ein „kombinierten Index“ für die Produktionsentwicklung der Wirtschaft. Die folgende Abbildung zeigt die Entwicklung dieses „Russia Composite PMI Output Index“ (schwarze Linie). im Vergleich mit der vierteljährlichen Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts (rote Linie; Veränderungen gegenüber dem Vorjahresquartal in Prozent).

Beim „Lockdown“ im Frühjahr 2020 brach auch der IHS Markit „Output-Index“ tief ein. Als sich die gesamtwirtschaftliche Produktion erholte, überschritt der IHS Output-Index wieder den Indexwert 50. Werte von mehr als 50 signalisieren ein Wachstum der Produktion gegenüber dem Vormonat.

Nach Abschluss der Erholung der Produktion im Frühjahr 2021 fiel der IHS-Markit Index wieder zurück. In den letzten Monaten schwankte er mit geringen Ausschlägen um die „Wachstumsschwelle“ von 50 Indexpunkten.

Kombinierter Einkaufsmanager-Index für Russlands Produktionsentwicklung

IHS Markit: Russia Services PMI: Business activity falls at softer pace, but demand conditions remain weak; 30.12.2021

Stimmung der Unternehmen auf niedrigstem Stand seit Oktober 2020

Aus der jüngsten IHS Markit-Umfrage vom 06. bis 21. Dezember 2021 ergab sich ein Anstieg des „Composite PMI“ von 48,5 Indexpunkten auf 50,2 Indexpunkte. Die Wachstumsschwelle von 50 Punkten wurde also nur sehr knapp überschritten.

Dabei fiel der Index für das „Verarbeitende Gewerbe“ geringfügig von 51,7 auf 51,6 Punkte. Der Index für den Dienstleistungsbereich stieg von 47,1 Punkten auf 49,5 Punkte.

IHS Markit merkt dazu unter anderem an:

Die Nachfrage der Kunden wurde insbesondere im Dienstleistungsbereich durch pandemiebedingte Einschränkungen gedrückt. Auch die Auftragsbestände sanken, insbesondere bei den Service-Unternehmen. Erneut nahm dort auch die Zahl der Beschäftigten ab. Im Verarbeitenden Gewerbe stiegen nur die Aufträge aus dem Inland weiter an. Die Auslandsaufträge nahmen ab.

Der Optimismus der Unternehmen sank im gesamten privaten Sektor im Dezember auf den niedrigsten Stand seit Oktober 2020. Die gedrückte Nachfrage und die Ungewissheit hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Pandemie belasten die Zuversicht der Unternehmen. Die kurzfristigen Geschäftsaussichten der privaten Unternehmen sind durch die hohe Inflation, steigende Infektionszahlen und die schwache Nachfrage gefährdet.

IHS Markit erwartet, dass die russische Wirtschaft 2021 ein Produktionswachstum von 4,1 Prozent erreicht hat. Für 2022 prognostiziert das Unternehmen trotz der aktuell wenig ermutigenden Umfrageergebnisse jedoch einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 3,4 Prozent. Das ist merklich mehr als Umfragen bei Banken und Instituten erwarten lassen. Laut der jüngsten Interfax-Umfrage wird für 2022 im Durchschnitt fast mit einer Halbierung der Wachstumsrate von 4,4 Prozent auf 2,4 Prozent gerechnet.

Sberbank-Prognosen für 2021 und 2022

Den Ergebnissen der Interfax-Umfrage entsprechen die jüngsten Wachstumserwartungen der Sberbank weitgehend. Die Bank erwartet, dass sich das Wirtschaftswachstum von 4,4 Prozent im Jahr 2021 auf 2,5 Prozent im Jahr 2022 abschwächt.

Sberbank Prognosen:
Wirtschaftswachstum 2021 und 2022

Sberbank: Global Economy News; Result of 2021 and expectations for 2022; 27.12.2021

Bei diesen Prognosen wurde allerdings noch nicht berücksichtigt, dass das Statistikamt Rosstat am 29. Dezember neue Schätzungen für das reale Bruttoinlandsprodukt in den Jahren 2020 und 2019 vorgelegt hat. Laut der neuen (dritten) Schätzung für 2020 sank Russlands Bruttoinlandsprodukt 2020 nur um 2,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Bisher war ein Rückgang um 3,0 Prozent gegenüber dem Vorjahr errechnet worden. 2019 stieg das Bruttoinlandsprodukt laut der fünften Rosstat-Schätzung nicht um 2,0 Prozent, sondern um 2,2 Prozent.

Als Gründe für die Abschwächung des Wachstums auf 2,5 Prozent im Jahr 2022 verweist die Sberbank darauf, dass die Erholungsperiode der Wirtschaft inzwischen abgeschlossen sei. Die russische Wirtschaft schwenke nun allmählich auf einen langfristigen Wachstumspfad ein. Gedrückt werde das Wachstum auch durch die festere Geldpolitik und eine allmähliche Rückkehr zu einer restriktiveren Fiskalpolitik.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

Titelbild
EvgenySHCH / Shutterstock.com