Optimistische Regierungsprognose: 2022 sinkt Russlands BIP nur um 4,2 Prozent

Die russische Regierung machte in der letzten Woche ihre Konjunkturprognosen für die Haushaltsplanung und die Wirtschaftsentwicklung bis 2025 einigen Pressevertretern bekannt. Die Regierung geht davon aus, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion im laufenden Jahr nur um 4,2 Prozent sinkt.

Fast alle westlichen Konjunkturbeobachter erwarten angesichts der Verhängung zahlreicher Sanktionen für 2022 zwar weiterhin einen deutlichen stärkeren Einbruch der russischen Wirtschaft. Aber auch von ihnen rechnen viele inzwischen mit einer „milderen“ Rezession als bisher, darunter die renommierte „Economist Intelligence Unit“ (EIU) des Londoner Wirtschaftsmagazins „The Economist“.

Die Regierungsprognose bleibt im Rahmen der Zentralbank-Vorgaben

Im Mai hatte das russische Wirtschaftsministerium in einem ersten Entwurf der Konjunkturprognosen für die Haushaltsplanung die diesjährige Rezession des Bruttoinlandsprodukts noch auf 7,8 Prozent veranschlagt (Vedomosti-Bericht). Mit seiner neuen Rezessionsprognose von 4,2 Prozent (Reuters-Bericht) rechnet es jetzt nur noch mit einem gut halb so scharfen Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Produktion. Diese innerhalb der Regierung vom Wirtschaftsministerium mit dem Finanz- und Energieministerium abgestimmte Prognose bleibt damit knapp innerhalb der „Prognose-Spanne“, die die russische Zentralbank vor rund 4 Wochen gesetzt hatte (- 4 Prozent bis – 6 Prozent).

Auch „Economist Intelligence Unit“ senkt Rezessionsprognose 2022 kräftig

 So stark wie für Russlands Regierung und Zentralbank haben sich die Konjunkturperspektiven aus Sicht der Londoner Wirtschaftsforscher der EIU zwar nicht aufgehellt. Aber auch sie senkten ihre Rezessionsprognose für Russland jetzt deutlich von 10,0 Prozent auf 7,7 Prozent (EIU-Prognosetabelle für Europa). Vor rund drei Wochen hatte bereits der Internationale Währungsfonds seine Rezessionsprognose für 2022 um 2,5 Prozentpunkte auf 6 Prozent abgeschwächt.

Die Einschätzungen der EIU und der russischen Regierung für den weiteren Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2023 unterscheiden sich nur noch wenig. Beide erwarten, dass sich ein Teil der bisher für 2022 erwarteten Rezession in das Jahr 2023 verschiebt und rechnen im nächsten Jahr mit einem weiteren Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um rund 3 Prozent.

 Wachstumsprognosen 2022 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Im zweiten Quartal 2022 war das BIP 4 Prozent niedriger als vor einem Jahr

Am 12. August teilte das russische Statistikamt Rosstat in einer vorläufigen Schätzung mit, dass das russische Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal um 4,0 Prozent niedriger war als im Vorjahresquartal. Nachdem das BIP im ersten Quartal noch um 3,5 Prozent höher als vor einem Jahr war, sank es im gesamten ersten Halbjahr gegenüber dem Vorjahr nur um 0,5 Prozent.

Besonders stark nahm im zweiten Quartal nach ersten Angaben der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung von Rosstat die Produktion im Großhandel ab (- 15,3 Prozent). Im Einzelhandel sank sie um 9,8 Prozent. Die Produktion des Verarbeitenden Gewerbes war 3,3 Prozent niedriger als vor einem Jahr.

Zum Rückgang des BIP um 4,0 Prozent trugen laut dem Forschungsinstitut der Vnesheconombank als Folge der Sanktionen und der hohen Zinsen vor allem der Rückgang der Produktion in konsumnahen Branchen und im Verarbeitenden Gewerbe  bei. Die folgende Abbildung des VEB-Instituts zeigt in der rechten Säule die Beiträge wichtiger Wirtschaftsbereiche in Prozentpunkten zum Rückgang des BIP um 4,0 Prozent.

Reales Bruttoinlandsprodukt
Veränderungen gegenüber dem Vorjahresquartal in Prozent

VEB Institut: Overview of the global economy and markets, 19.08.2022

Das reale BIP war im Juni nur noch wenig höher als vor 14 Jahren

Im Verlauf des ersten Halbjahres 2022 ist Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion saisonbereinigt scharf eingebrochen. Das Institut „Economic Expert Group“ veröffentlichte in seinem monatlichen Konjunkturbericht dazu die folgende Abbildung. Sie zeigt die Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts (schwarze Linie) im Vergleich mit der Produktionsentwicklung in sogenannten „Basis-Branchen“ (blaue Linie).

Entwicklung der Indizes des saisonbereinigten realen Bruttoinlandsprodukts und der Produktion von Basis-Branchen (Jan 2003 =100%)

Economic Expert Group: Economic Review; 17.08.2022

Im Tiefpunkt während der „Lockdowns“ in der „Corona-Krise“ im Frühjahr 2020 war der Index des realen Bruttoinlandsprodukts auf 156 Punkte gefallen (Januar 2003=100). Bis Anfang 2022 stieg er um rund 15 Prozent auf einen neuen Höchstwert. Im Verlauf des ersten Halbjahres 2022 fiel er um rund 6 Prozent auf den Indexwert 171 im Juni 2022.

Das reale BIP war damit im Juni kaum noch höher als vor 14 Jahren vor dem Konjunktureinbruch in der Weltfinanzkrise im Herbst 2008 oder in den Jahren 2015/2016.

2022 sind scharfe Rückgänge bei Verbrauch und Investitionen zu erwarten

Im Durchschnitt des laufenden Jahres wird das reale Bruttoinlandsprodukt laut der Prognose der Regierung 4,2 Prozent niedriger sein als 2021. Die Regierung geht davon aus, dass dabei die real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung lediglich um 2,8 Prozent sinken (Mai-Prognose: – 6,8 Prozent). Die Reallöhne dürften ähnlich schwach um 2,9 Prozent abnehmen (Mai-Prognose: – 3,8 Prozent).

In der Arbeitslosenquote wird sich die Wirtschaftskrise nach Einschätzung der Regierung in diesem Jahr noch nicht niederschlagen. Sie erwartet, dass die Arbeitslosenquote 2022 auf dem Stand des Vorjahres stagniert (4,8 Prozent).

Beim realen Einzelhandelsumsatz wird hingegen ein scharfer Rückgang erwartet. Seine Abnahme um voraussichtlich 6,6 Prozent (Mai-Prognose: – 8,7 Prozent) signalisiert den deutlich niedrigeren realen privaten Verbrauch im Jahr 2022.

Bei den Investitionen erwartet die Regierung einen noch erheblich tieferen Einbruch. Sie dürften in diesem Jahr real um 10,8 Prozent sinken (Mai-Prognose: – 19,4 Prozent).

Die Inflationsrate sinkt bis Ende 2022 auf 13,4 Prozent

Die Inflationsentwicklung sieht die Regierung jetzt auch deutlich günstiger als in ihrer Mai-Prognose. Für das Jahresende 2022 rechnet sie nur noch mit einem Anstieg der Verbraucherpreise um 13,4 Prozent gegenüber Dezember 2021 (Mai-Prognose: +17,5 Prozent).

Bis zum April 2022 hatte sich der jährliche Preisanstieg auf 17.8 Prozent beschleunigt. Im Juli 2022 betrug er noch 15,1 Prozent und sank Mitte August auf 14.6 Prozent.

Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vorjahr in Prozent

VEB Institut: Overview of the global economy and markets, 19.08.2022

Regierung: 2023 setzt sich die Rezession schärfer als bisher erwartet fort

Im nächsten Jahr rechnet die Regierung jetzt mit einem deutlich stärkeren weiteren Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (- 2,7 Prozent) als in ihrer Prognose im Mai (-0,7 Prozent). Diese Einschätzung steht im Einklang mit der jüngsten Prognose der Zentralbank, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion 2023 im Jahresvergleich um 1 bis 4 Prozent sinken wird.

Der Anstieg der Verbraucherpreise wird laut der Regierungsprognose bis zum Jahresende 2023 weiter auf 5,5 Prozent sinken (Inflationsprognose der Zentralbank für Dezember 2023: 5 bis 7 Prozent).

Die Erholung wird laut Regierung etwas länger dauern als die Rezession

Die Regierung geht davon aus, dass der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in den Jahren 2022 und 2023 um insgesamt rund 7 Prozent in den Jahren 2024 und 2025 nicht ganz aufgeholt wird.

Im Jahresdurchschnitt 2024 erwartet die Regierung ein Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 3,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr und 2025 um 2,6 Prozent.

Das Inflationsziel der Zentralbank von 4,0 Prozent, das die Zentralbank Ende 2024 erreicht haben will, wird nach Einschätzung der Regierung dann mit einem Preisanstieg um 4,2 Prozent noch knapp verfehlt werden.

Die Zentralbank erwartet 2024/2025 noch weniger Wachstum als die Regierung

Die russische Zentralbank schätzt in ihren am 11. August veröffentlichten „Monetary Policy Guidelines“ die Wachstumsaussichten der russischen Wirtschaft in den Jahren 2024 und 2025 im Basis-Szenario niedriger ein als die Regierung, wie folgende Tabelle zeigt. Die Zentralbank erwartet in beiden Jahren einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 1,5 bis 2,5 Prozent. Die Zentralbank-Prognose bleibt damit im Jahr 2024 merklich unter der Prognose der Regierung (+ 3,7 Prozent).

Prognosen der russischen Zentralbank im Basis-Szenario (Ausschnitt)

Central Bank of Russia: Monetary Policy Guidelines for 2023-2025; 11.08.2022

Dr. Janis Kluge: Russland wird deutlich ärmer und technologisch rückständiger

Im Rahmen eines Interviews mit dem Presseamt der Bundesregierung zu den Auswirkungen der Sanktionen, äußerte sich Dr. Janis Kluge, Russland-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, zur aktuellen Lage und den Perspektiven der russischen Wirtschaft.

Er hob zunächst den bereits eingetretenen Rückgang der Produktion hervor:

„Die russische Wirtschaft ist von Februar bis Juni 2022 um rund 6,5 Prozent geschrumpft. Man geht in Russland davon aus, dass diese Talfahrt sich bis ins nächste Jahr fortsetzt.

Allerdings ist die Wirkung der Sanktionen sehr ungleich verteilt. In einigen Sektoren der russischen Wirtschaft, wie etwa der Luftfahrt oder der Autoindustrie, geht aktuell fast gar nichts mehr. Der Konsum ist ebenfalls eingebrochen, auch wenn die vollen Restaurants in Moskau das auf den ersten Blick nicht vermuten lassen.

Das Geschäft mit dem Erdöl brummt aber weiterhin und auch das wenige Gas, das noch geliefert wird, bringt viel Geld. Deshalb steht auch der Staatshaushalt noch relativ gut da, trotz der Ausgaben für den Krieg und großer Hilfspakete, die wegen der Sanktionen geschnürt werden müssen.“

Zu den weiteren Perspektiven meint Kluge, Russland werde in den kommenden Jahren deutlich ärmer und technologisch rückständiger werden, weil es die Zusammenarbeit mit dem Westen niemals vollständig ersetzen könne:

„Der Abstieg der russischen Wirtschaft setzt sich weiter fort, aber es wird keinen plötzlichen Zusammenbruch geben. Stattdessen wird es immer wieder zu Knappheiten kommen, weil die Lagerbestände von westlichen Gütern langsam erschöpft sind. Auch der Maschinenpark der russischen Industrie, der größtenteils importiert ist, kann in vielen Unternehmen nicht mehr erneuert werden und verschleißt nach und nach.

Wenn das EU-Ölembargo ab Ende des Jahres schrittweise in Kraft tritt, wird es auch für den Energieexport schwieriger werden. Natürlich suchen alle russischen Unternehmen und die russische Regierung gerade händeringend nach alternativen Lieferanten und Absatzmärkten. Auch wenn das zum Teil erfolgreich ist: Die russische Wirtschaft kann die Kooperation mit dem Westen niemals vollständig ersetzen. Russland wird deshalb in den kommenden Jahren deutlich ärmer und technologisch rückständiger werden.“

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland
von
Klaus Dormann:

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