Morgenkommentar am 10. März 2017

Über manche Vorfälle in Westeuropa erfährt man dieser Tage zuverlässiger aus der russischen als aus der deutschen Presse. Also dass die Vorfälle überhaupt vorgefallen sind. Schließlich hat kaum eine deutsche Zeitung die dpa-Meldung abgedruckt, wonach die Pariser Vorortskrawalle am Dienstag erstmals in ein Schulgebäude – das Gymnasium Suger in St. Denis – hineingetragen wurden. Die Bildungsministerin sprach von einem “Dammbruch”. Das Lycee musste komplett evakuiert werden; die Panik war groß. Doch wer da gegen wen und wieso überhaupt – in der Sache hält dpa sich bedeckt. Von “Jugendlichen” und “Schülern” ist die Rede, von 55 zumeist minderjährigen Festgenommenen und von Protesten gegen Polizeigewalt.

Eigenartig, so kennt man die französischen Nachbarn gar nicht. Bildung war ihnen doch seit jeher heilig; Paris ist der Sitz der zweitältesten europäischen Universität.

Nun traut man den russischen Berichten über angeblich von Arabern und Afrikanern getragene Krawalle auch nicht (antiwestliche Propaganda?). Angelsächsische Webseiten widmen den Ausschreitungen zwar mehr Aufmerksamkeit – zu den ethnischen und kulturellen Wurzeln kein Wort. Also waren es doch Franzosen? Oder Angehörige des französischen Volkes als Summe der in Frankreich gerade Befindlichen – nach der jetzt gültigen Kanzleramtsdefinition im Zeichen totaler abendländischer Dekonstruktion?

Noch schwärzt (oder sollte man sagen: weißt?) Youtube die Gesichter unter den Hoods, den Kapuzenpullovern auf den hochgeladenen Videos aus St. Denis nicht. Es sei auch ausdrücklich erwähnt, dass am Beginn der Krawalle der Vorwurf stand, ein weißer Polizist habe am 2. Februar in Aulnay-sous-Bois, einem anderen Vorort, den farbigen Theo Luhaka (22) mit einem Schlagstock anal traktiert und verwundet. Was in der Tat, wenn es zutreffen sollte, ein Skandal wäre. Ebenso wie die Ausschreitungen der minderjährigen Hoodies ein Skandal sind.

Der größte, weil folgenreichste und verheerendste Skandal allerdings ist das satte, das gleichgültige Schweigen der europäischen Medien, während vor unseren Augen eine der Kulturmetropolen des Kontinents von ihren Randgebieten her verrottet. Und Paris ist längst nicht die einzige Stadt. Die Verachtung, die in dieser ach so toleranten Négligence zum Ausdruck kommt, beschreibt den Zustand unserer Gesellschaft. Wer wohnt schon in den Banlieues? Hauptsache, in Prenzlberg bleibt es bunt und dönerig.

Die Journalisten wehren sich erst, wenn es einen der ihren trifft. Etwa den in türkischer Haft einsitzenden Deniz Yücel, der nicht nur schriftlich dem deutschen Volk, sondern konkret und mit allerübelster Hetzerfeder dem Autor Thilo Sarrazin den Tod an den Hals gewünscht hat (und dafür von einem deutschen Gericht zur Zahlung von 20.000 Euro verurteilt wurde). Ganzseitige Anzeigen für seine Freilassung werden geschaltet, weil die Türkei das heilige Gut der Pressefreiheit verletzt.

Wir wären schon zufrieden, wenn die Presse so frei wäre, uns von der europäischen Wirklichkeit zu erzählen.