Abrüstungsabkommen in Gefahr
1987 vereinbarten Moskau und Washington, landgestützte Kurz- und Mittelstreckenraketen zu verschrotten. Das geschah, nunmehr droht jedoch eine erneute Aufrüstung – die vielleicht noch abgewendet werden könnte.
Der sogenannte „INF“-Vertrag verbot bestimmte Kurz- und Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern. Die Sowjetunion bzw. Russland stellte 1.846 dieser Systeme außer Dienst, die USA 846. Moskau reduzierte weit stärker, weil der INF-Vertrag lediglich die land-, nicht aber die luft- oder seegestützten Systeme verbot. Die sowjetische bzw. russische Nuklearstreitmacht baut v .a. auf landgestützte Raketen, während die USA ihr Schwergewicht traditionell auf Atom-U-Boote und Langstreckenbomber legen, also see- und luftgestützte Systeme.
Sowjetische bzw. russische Beobachter bemängelten wiederholt eine für Moskau ungünstige Schlagseite des INF-Vertrags, gleichwohl wurde er zu vollen Teilen umgesetzt, was von der jeweils anderen Seite überprüft wurde.
Zweifel am INF-Vertrag
Seit 2007 äußern führende offizielle Vertreter Russlands ernsthafte Zweifel am INF-Vertrag: Andere Länder hätten ihr Potenzial an Kurz- und Mittelstreckenraketen in den vorhergehenden 20 Jahren erheblich erweitert (China) bzw. verfügten nunmehr erstmals über diese Trägersysteme (Pakistan u.a.). Russland sei insofern neuen Gefahren ausgesetzt, anders als die USA.
Die USA erhoben 2008 Vorwürfe, dass Russland den INF-Vertrag verletze, sie wurden seit 2014 und insbesondere im Frühjahr 2017 konkretisiert. Moskau hält die Vorwürfe für substanzlos und wirft seit 2014 vielmehr der NATO vor, den Vertrag insbesondere mit dem Anti-Raketenschirm in Rumänien zu verletzen. Dies weisen wiederum die USA zurück.
Die wechselseitigen Vorwürfe könnten folgende Hintergründe besitzen:
Erste Version: Russland verletzt den Vertrag, der Westen hingegen nicht. Dies ist die offizielle Position der USA. Sie wird von vielen westlichen Experten geteilt, es handelt sich jedoch keineswegs um eine einhellige Ansicht.
Moskau würde demzufolge die Anschuldigungen gegen die USA erheben, um von den eigenen Verfehlungen abzulenken, Zeit für eine weitere Rüstung zu gewinnen und nicht zuletzt, um Meinungsunterschiede innerhalb der NATO zu vertiefen.
Einige westliche Experten fordern militärische Gegenmaßnahmen. Paul Selva, der stellvertretende Generalstabschef der USA ist jedoch nicht dieser Ansicht.
Zweite Version: Die USA verletzen den INF-Vertrag, Russland hingegen nicht. Dies ist die offizielle russische Linie. Es ist durchaus denkbar, dass sie der Realität entspricht, aber auch nennenswerte Anzahl russischer Experten ist von dieser Version nicht überzeugt.
Dritte Version: Sowohl die USA als auch Russland verhalten sich (möglicherweise) nicht vertragskonform und verletzen somit den Vertrag. Diese Linie wird von keinem Land offiziell vertreten, aber von zahlreichen westlichen und russischen Fachleuten. Es handelt sich um die meines Erachtens wahrscheinlichste Version. Warum?
Raketenabwehr in Rumänien
Russland argumentiert, Elemente der westlichen Raketenabwehr in Rumänien würden den INF-Vertrag verletzen. Viele westliche Experten gehen auf diese russischen Vorwürfe nicht ein und beschränken sich darauf, Russland anzuklagen, andere jedoch halten es für möglich, dass die Vorwürfe Moskaus berechtigt sind.
Möglicherweise, weil die USA lediglich versichern, die Anlagen seien technisch so ausgerichtet, dass sie den INF-Vertrag nicht verletzen würden. Das mag sein, es gibt jedoch Indizien, dass es gleichwohl der Fall sein könnte. Eine Studie der „SWP“ (von Oliver Meier, Quelle s. u.), die vom Bundeskanzleramt finanziert wird, stellt fest: „Die russischen Anschuldigungen sind aus technischer Sicht schwer zu entkräften.“
Die USA wiederum werfen Russland vor, den INF-Vertrag mit der Stationierung einer neuen landgestützten Mittelstreckenrakete verletzt zu haben. Dies ist im Westen ganz überwiegende Ansicht. Vielleicht wurde der Vertrag aber auch nicht verletzt, es bleiben Zweifel. Diese werden letztlich auch von Deutschland und Frankreich geteilt, denn die Amerikaner haben ihre Vorwürfe nicht so weit präzisiert, dass die Regierungen in Berlin und Paris von deren Stichhaltigkeit überzeugt sind.
Womöglich haben Vertreter Russlands in den vergangenen Jahren nur deshalb laut über einen möglichen Ausstieg aus dem INF-Vertrag nachgedacht, um das Interesse der USA zu erhöhen, Moskau in der Frage der Raketenabwehr entgegen zu kommen. Wir wissen es nicht genau.
Verletzung des Vertrags
Ein Ausweg aus den Dilemmata, den deutsche oder etwa amerikanische Fachleute auch vorschlagen, ließe sich leicht finden: Die NATO gestattet russischen Experten die Anlagen in Rumänien zu überprüfen. Westliche wiederum würden vor Ort in Russland ihren Vorwürfen nachgehen. Womöglich wird sich herausstellen, dass die westlichen bzw. russischen Vorwürfe nicht stichhaltig sind oder ausgeräumt werden können. Beides ist durchaus möglich.
Oder es würde offenkundig werden, dass die eine oder andere Seite den Vertrag tatsächlich verletzt hat. Hiervon müsste man auch ausgehen, wenn eine Seite oder gar beide zu Überprüfungsmaßnahmen nicht bereit sein sollten. So oder so: die Überprüfung würde Klarheit schaffen. Die es bislang nicht gibt. Die Bundesregierung sollte in ihren Gesprächen mit den NATO-Partnern und Russland nachdrücklich und ggf. auch öffentlich für die wechselseitigen Inspektionen eintreten.
Diese könnten sogar dem gescheiterten westlich-russischen Projekt einer gemeinsamen Raketenabwehr einen neuen Impuls verleihen. Aus der gegenwärtigen Krise könnten demzufolge also sogar Chancen erwachsen. In diese Richtung zielt auch die SWP-Analyse von Katarzyna Kubiak (s.u.). Das ist die gute Nachricht.
Leider überwiegen aktuell die schlechten:
Das US-Repräsentantenhaus hat den Verteidigungshaushalt für 2018 bereits beschlossen, der US-Senat wird im September folgen. Es werden Mittel für die Entwicklung einer Rakete bewilligt, die nach dem INF-Vertrag verboten ist. Das US-Verteidigungsministerium hat nicht darum gebeten. Es sieht nach einem INF-Rückzug der USA aus.
Nach Ansicht des Repräsentantenhauses soll die neue Rakete mit einem konventionellen Sprengkopf ausgestattet werden, im Entwurf des Senats ist sogar von einem Nuklearsprengkopf die Rede. Zudem könnten die USA aus dem START II-Vertrag aussteigen. Er begrenzt die Zahl der Langstreckenraketen und Atomsprengköpfe.
Dabei plädiert kaum ein westlicher Experte dafür. Auch das US-Verteidigungsministerium ist keineswegs dafür, START II zu den Akten zu legen. Im Gegenteil. Zudem sollen nach Ansicht des US-Parlaments Raketen, die im Rahmen des NATO-Abwehrschirms stationiert sind, auch offensiv genutzt werden. Genau dies würde die russischen Vorwürfe belegen.
Streit in der amerikanischen Innenpolitik
Die Haushaltspläne des US-Parlaments sind weder außen- noch verteidigungspolitisch begründet. Die Abgeordneten der Demokraten wollen vielmehr aus innenpolitischen Gründen die Aufmerksamkeit weiterhin auf eine von Russland ausgehende Gefahr lenken – um Präsident Trump zu schwächen. Viele republikanische Abgeordnete wiederum unterstützen die Entwürfe, weil sie ihren Präsidenten und ihre Partei von dem Verdacht befreien wollen, Moskau gegenüber allzu willfährig zu sein. Kurz gesagt: Ein Streit in der amerikanischen Innenpolitik droht die Eckpfeiler der internationalen Rüstungskontrolle zu zerstören.
Diese Entwicklung ist nicht in deutschem oder europäischem Interesse und wird die Meinungsunterschiede innerhalb der NATO über den INF-Vertrag und die Raketenabwehr beträchtlich vertiefen. Deutschland, Frankreich u.a. werden der Entwicklung kaum tatenlos zusehen. Russland sieht Interessengegensätze in der NATO sicher nicht ungern, es aber das US-Parlament, das eine Spaltung der NATO in verschiedene Lager vorantreibt.
Empfehlungen zur weiterführenden Lektüre:
- Christian Wipperfürth: Die NATO, Russland und die Raketenabwehr; cwipperfuerth.de, 17.11.2017
- Katarzyna Kubiak: Raketenabwehr: Potentiale einer Kooperation mit Russland; SWP-Studie, Berlin, Juli 2017
- Oliver Meier: Zuspitzung im Streit um den INF-Vertrag; SWP aktuell, Mai 2017,