Trotz gesunkenem BIP im dritten Quartal
„From recovery to expansion, amid headwinds“ – so überschreibt die EU-Kommission ihre am 11. November veröffentlichte Konjunkturprognose, die auch ein Kapitel zur Wirtschaftsentwicklung in Russland bietet. Der Titel der „Herbstprognose“ der EU passt auch zur konjunkturellen Lage in Russland. Das Land sucht den besten Weg von der Erholung zu weiterem Wachstum der Wirtschaft. Das blieb im dritten Quartal aus.
Die Produktion der russischen Wirtschaft überschritt zwar schon im zweiten Quartal 2021 den vor der Corona-Krise im vierten Quartal 2019 erreichten Stand. Die „Erholung“ war also schon vor einem halben Jahr geschafft. Das Wachstum der Wirtschaft setzte sich danach aber nicht fort. Im dritten Quartal 2021 ist das Bruttoinlandsprodukt nach ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der Vnesheconombank gegenüber dem zweiten Quartal sogar etwas gesunken.
Auch die russische Wirtschaft hat nach der Erholung mit „Gegenwind“ zu kämpfen. Den weiteren Aufschwung bremsen Einschränkungen der Produktion wegen der neuen Corona-Welle. Der Rückgang des BIP im dritten Quartal weckt Zweifel an bisherigen Wachstumserwartungen. Manche Prognosen werden gesenkt.
Die neue EU-Prognose bleibt knapp unter dem Konsens der Analysten
Die EU-Kommission hob am Donnerstag ihre Wachstumsprognose für die russische Wirtschaft im Vergleich mit ihrer Frühjahrsprognose aber deutlich an. Laut der neuen EU-Prognose wird die russische Wirtschaft im Jahresdurchschnitt 2021 ein Wachstum von 3,9 Prozent schaffen und damit den Rückschlag des Jahres 2020 um 3,0 Prozent klar überwinden. Vor einem halben Jahr erwartete sie 2021 in Russland nur einen gesamtwirtschaftlichen Produktionsanstieg um 2,7 Prozent.
Die neue Wachstumsprognose der EU bleibt mit 3,9 Prozent knapp unter der Wachstumsspanne von 4,0 bis 4,5 Prozent, die die russische Zentralbank als Prognose für 2021 nennt. In dieser Spanne liegt inzwischen die große Mehrheit der Erwartungen (siehe Ostexperte.de-Bericht). Ende Oktober ermittelte das Research-Unternehmen FocusEconomics in einer Umfrage bei internationalen Banken und Instituten eine durchschnittliche Wachstumsprognose von 4,2 Prozent.
Der deutsche Sachverständigenrat erwartet 5,5 Prozent Wachstum in Russland
Einige Prognosen weichen von diesem „Konsens“ jedoch ungewöhnlich stark ab. So ist sich selbst die Elite der deutschen Wirtschaftsforscher im Herbst 2021 noch keineswegs einig, wie stark die russische Wirtschaft in diesem Jahr wachsen dürfte.
Viel weniger Wachstum als der „Konsens“ erwartet das Berliner „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“ in Russland. Es senkte seine Prognose für 2021 Mitte September auf nur noch 2,2 Prozent (DIW-Wochenbericht Nr. 37, S. 614)
Viel mehr Wachstum als der „Konsens“ traut der deutsche „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ der russischen Wirtschaft zu. In seinem am 10. November veröffentlichten Jahresgutachten ist jedenfalls auf Seite 27 in Tabelle 1 zu lesen, dass Russlands BIP 2021 um 5,5 Prozent Prozent wachsen dürfte.
Eine Begründung für diese weit überdurchschnittliche Wachstumsprognose bietet der Sachverständigenrat in seinem Gutachten leider nicht. Stattdessen informiert er über den Beitrag Russlands zur Erderwärmung, unter anderem mit Schaubildern zum Beitrag Russlands zur weltweiten Förderung von fossilen Rohstoffen (S. 2) und zu den CO2-Emissionen (S. 388ff: Kapitel „Herausforderungen der Dekarbonisierung“). Nachhaltigkeit der Produktion ist ein Schwerpunkt des diesjährigen Gutachtens mit dem Titel: „Transformation gestalten: Bildung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit“.
VEB-Institut: Rückschlag nach der Erholung der Produktion von der Krise
Russlands Statistikamt Rosstat wird zwar erst am 17. November eine erste Schätzung zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im dritten Quartal veröffentlichen. Das Wirtschaftsministerium und einige Banken legten aber schon Schätzungen vor. So berichteten wir in der letzten Woche bereits über Berechnungen der Sberbank zur aktuellenEntwicklung der Produktion wichtiger Wirtschaftsbereiche.
Am 11. November veröffentlichte das Forschungsinstitut der Vnesheconombank erste Berechnungen zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts im September und im gesamten dritten Quartal („Monthly GDP Index September 2021“). Die folgende Abbildung des Instituts aus seinem am Freitag erschienenen Wochenbericht zeigt, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion saisonbereinigt bereits im zweiten Quartal 2021 das vor der Corona-Krise im vierten Quartal 2019 erreichte Niveau knapp übertroffen hat. Der tiefe Einbruch der Produktion im Frühjahr 2020 war aufgeholt.
Index des Bruttoinlandsprodukts (Jan. 2014 = 100)
Vnesheconmbank Institute: World Economy and Markets Review, 12.11.2021
Das BIP sank vom zweiten zum dritten Quartal aber um fast 1 Prozent
Im dritten Quartal 2021 gab es aber einen Rückschlag. Im Juli und August sank das Bruttoinlandsprodukt laut VEB-Institut saisonbereinigt gegenüber dem Vormonat. Im September wuchs es gegenüber August zwar wieder um 0,5 Prozent. Für das gesamte dritte Quartal ergab sich gegenüber dem zweiten Quartal aber ein Rückgang um 0,9 Prozent.
Im September stützte vor allem die Landwirtschaft das Wachstum
Mehr als die Hälfte desWachstums des Bruttoinlandsprodukts im September gegenüber August um 0,5 Prozent ist laut VEB-Institut dem Anstieg der landwirtschaftlichen Produktion zu verdanken. Die Agrarproduktion wuchs gegenüber dem Vormonat deutlich, weil Erntearbeiten witterungsbedingt vom August in den September verschoben wurden.
Impulse für das gesamtwirtschaftliche Wachstum kamen laut VEB-Institut außerdem von den vor der Duma-Wahl erfolgten Einmal-Zahlungen an Rentner sowie Beschäftigte beim Militär und im Justizwesen. Die real verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte stiegen im dritten Quartal. Im August und September wuchsen die realen Einzelhandelsumsätze und – noch stärker – die Umsätze im Dienstleistungsbereich, kommentierte Oleg Zasov, Leiter der volkswirtschaftlichen Abteilung des VEB-Instituts.
Wie stark ist die Produktion trotz Corona gegenüber 2019 gewachsen?
Zur Beschreibung der Erholung der russischen Wirtschaft von der Corona-Krise ist auch ein Vergleich der aktuellen Produktionsdaten mit den Daten des „Vorkrisen-Jahres“ 2019 aufschlussreich. Das russische Wirtschaftsministerium hat Ende Oktober Berechnungen zu diesem „2-Jahres-Vergleich“ in seinem monatlichen Konjunkturbericht veröffentlicht.
Auf der Basis der Angaben des Ministeriums erstellte das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank in seinem jüngsten Wochenbericht „BOFIT Weekly“ in der folgenden Abbildung einen Vergleich der Entwicklung der Produktion wichtiger Wirtschaftssektoren. Gezeigt wird, wie sich die realen Produktionswerte in den Monaten Januar bis September 2021 gegenüber ihren Werten vor zwei Jahren verändert haben. Die Abbildung informiert außerdem auch über die Entwicklung der verfügbaren Realeinkommen der privaten Haushalte (rote Punkte) und der Zahl der Beschäftigten (rote Linie).
Die Produktion vieler Wirtschaftssektoren ist 2021 höher als 2019, dem Jahr vor der Rezession 2020
BOFIT: Russia’s economic growth has continued, though slowing a bit, BOFIT weekly,12.11.2021, Chart
Im September 2021 war von den dargestellten Wirtschaftszweigen nur die Produktion im Bereich Bergbau/Förderung von Rohstoffen („Minerals extraction“) noch etwas niedriger als zwei Jahre zuvor (- 0,6 Prozent).
Der eng mit der Rohstoffproduktion verbundene Transport von Waren („Goods transport“) ist im September-Vergleich etwas gestiegen (+ 1,7 Prozent).
Die Produktion des „Verarbeitenden Gewerbes“ („Manufacturing industries“) war im September 2021 mit + 5,2 Prozent deutlich höher als zwei Jahre zuvor. Noch stärkere Zuwächse als das „Verarbeitende Gewerbe“ erreichten im Verlauf des Jahres 2021 beim „2-Jahres-Vergleich“ zeitweilig der Großhandel („Wholesale“) und die Bauwirtschaft („Construction“).
Der reale Umsatz im privaten Dienstleistungsbereich („Services excl. Government sector“) war im September 3,8 Prozent höher als im September 2019. Er stieg erst im Sommer 2021 deutlich über die vor zwei Jahren erreichten Werte, während der reale Einzelhandelsumsatz („Retail sales“) bereits Anfang 2021 fast 4 Prozent höher war als vor zwei Jahren. Im September 2021 setzte der Einzelhandel real 4,3 Prozent mehr um als im September 2019.
Gestützt wurde die Konsumkonjunktur erst seit Sommer 2021 von höheren real verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte (rote Punkte). Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums waren die real verfügbaren Einkommen im dritten Quartal 3,6 Prozent höher als zwei Jahre zuvor.
Die Zahl der Beschäftigten hielt sich seit Mitte 2021 fast auf dem Stand vor 2 Jahren (rote Linie). Laut Wirtschaftsministerium war sie im September 2021 mit 72,3 Millionen um rund 100.000 höher als im September 2019.
Der Anstieg der Produktion in 5 „Kernsektoren“ der Wirtschaft gegenüber 2019 schwächte sich im Verlauf der Sommermonate 2021 ab.
Auch die gesamtwirtschaftliche Produktion, das reale Bruttoinlandsprodukt („Gross Domestic Product“), wuchs im dritten Quartal deutlich schwächer. Laut Wirtschaftsministerium war das BIP im zweiten Quartal 2021 knapp 2 Prozent höher als im zweiten Quartal 2019. Im dritten Quartal war das BIP nach den Berechnungen des Ministeriums aber nur noch 0,4 Prozent höher als zwei Jahre zuvor. Allein im September 2021 war es 0,7 Prozent höher als im September 2019.
EU: Die Erholung des privaten Verbrauchs ist der wichtigste Wachstumsträger
Zur voraussichtlichen Entwicklung des Wirtschaftswachstums und der Verwendung des Bruttoinlandsprodukts in den Jahren 2021 bis 2023 veröffentlichte die EU-Kommission folgende Abbildung:
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent (schwarze Linie) und Beiträge der Verwendungsbereiche des BIP zum Wirtschaftswachstum in Prozentpunkten
EC-Commission: Autumn 2021 Economic Forecast: Country forecast: Russia; 11.11.2021
Die Wachstumsbeiträge der Verwendungsbereiche des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2021 schätzt die EU-Kommission so ein:
Der private Konsum (gelber Säulenabschnitt) wird sich 2021 nach seinem Einbruch im Jahr 2020 um 8,5 Prozent zwar stark erholen. Öffentliche Transfers, steigende Reallöhne und die Auflösung von 2020 angesammelten Ersparnissen dürften ihn ankurbeln. Er wird jedoch mit einem Anstieg von 5,7 Prozent das Niveau von 2019 noch nicht wieder erreichen.
Der öffentliche Konsum (blauer Abschnitt), der im Krisenjahr 2020 um 4,0 Prozent erhöht wurde, dürfte 2021 ähnlich stark wachsen, obwohl die steigenden staatlichen Öl- und Gaseinnahmen in diesem Jahr voraussichtlich nicht für öffentliche Ausgaben, sondern zur Verstärkung der „Haushaltspuffer“ genutzt werden.
Die Brutto-Anlageinvestitionen (schwarzer Abschnitt), die 2020 um 4,3 Prozent sanken, werden sich 2021 voraussichtlich nur moderat erholen (+ 2,5 Prozent). Gründe dafür sind die langjährigen Schwächen im Geschäftsklima, Verzögerungen bei den nationalen Infrastrukturprojekten durch Änderungen der Prioritäten und eine gewisse Zurückhaltung bei neuen Investitionen in die Entwicklung fossiler Brennstoffe angesichts langfristig verhaltener Preisaussichten.
Die Importe, die 2020 sehr stark verringert wurden (- 12,0 Prozent), werden 2021 voraussichtlich kräftig zunehmen (+ 7,3 Prozent). Ein etwas stärkerer Rubel macht sie erschwinglicher. Zudem haben sich die „terms of trade“, das Verhältnis zwischen Ein- und Ausfuhrpreisen, für Russland deutlich verbessert.
Die Exporte sanken 2020 deutlich weniger stark (- 4,3 Prozent) als die Importe. Relativ hohe Nicht-Öl-Exporte begrenzten den Rückgang. Sie werden 2021 weiter wachsen. Demgegenüber sinken entsprechend dem OPEC+-Abkommen 2021 die Ölexporte. Insgesamt dürften die Exporte um 4,9 Prozent steigen, schwächer als die Importe (+ 7,3 Prozent).
Der Wachstumsbeitrag der Netto-Exporte (roter Abschnitt) wird 2021 geringfügig negativ (- 0,3 Prozentpunkte).
Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und seiner Verwendungsbereiche Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent
EC-Commission: Autumn 2021 Economic Forecast: Country forecast: Russia; 11.11.2021
DekaBank-Prognose „verschiebt“ Wachstum von 2021 auf 2022
Daria Orlova, Russland-Expertin der Frankfurter DekaBank, erwartet in Russland für das Jahr 2021 mit + 4,2 Prozent weiterhin mehr Wachstum als die EU-Kommission. Orlova senkte aber in der letzten Woche in der monatlichen Russland-Analyse in den „Emerging Markets Trends“ ihre Wachstumsprognose für das laufende Jahr. Bisher hatte sie einen Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion von + 4,5 Prozent erwartet. Gleichzeitig erhöhte sie aber ihre Prognose für 2022 von + 2,2 Prozent auf + 2,5 Prozent.
Zu den konjunkturellen Folgen der neuen Corona-Welle meint Orlova:
„Die vierte COVID-Welle, die derzeit durch Russland rollt, deutet auf eine Schwäche im vierten Quartal hin. Um die Welle abzubremsen, wurde Anfang November eine kurze Periode „arbeitsfreier Zeit“ eingeführt. Seitdem setzt man eher auf 3G-Regeln als auf Lockdown-Maßnahmen. Dennoch werden die COVID-19-Beschränkungen in mehreren Dienstleistungssektoren Auswirkungen haben, was sich im Service-PMI widerspiegelt, der im Oktober in die Kontraktionszone (48,8 Punkte) gefallen ist.“
Starke Wachstumsverluste erwartet Daria Orlova von der vierten Welle aber offenbar nicht:
„Nach dem ersten Lockdown 2020 sind die pandemiebedingten Beschränkungen in Russland im internationalen Vergleich gering ausgefallen, sodass die Corona-Pandemie für die Konjunkturentwicklung trotz der vergleichsweise geringen Impfquote von rund 30% eine kleinere Rolle spielt.“
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Russische Wirtschaft: Trotz Corona-Welle steigende Wachstumsprognosen; 08.11.2021
- Industrieproduktion auf neuem Jahreshoch – Sberbank erhöht BIP-Prognose; 03.11.21
- WIIW: 2021 kräftige Produktionserholung – aber auch viel mehr Inflation; 25.10.2021
- Deutsche Institute: Russlands Wirtschaft wächst 2021 um 4,5 Prozent; 18.10.2021
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Horst Teltschik plauderte mit RT DE und SNA über Russland und Deutschland
- Der Ost-Ausschuss veröffentlichte ein weiteres „Update Russland“
- „Klimaschutz in Russland“ analysierten Marina Voitenko und Marianna Poberezhskaya
- Sergey Dubinin, VTB Capital, erwartet ein Jahrzehnt weltweiter Inflation als Folge der Krise