Ein Mahnmal aserbaidschanischer Geschichte: Der Märtyrerfriedhof in Baku

In Gedenken an einen beinahe vergessenen Friedhof

Jedes Jahr gedenken die Aserbaidschaner am 20. Januar der Opfer, die im Jahr 1990 durch sowjetische Truppen massakriert wurden. Der Ort, an dem die Zivilisten begraben wurden, ist heute als Märtyrerfriedhof bekannt und hat im Laufe des letzten Jahrhunderts viele Umwandlungen erlebt.

In der Nacht zum 15. Juli 2020 fand in Baku eine spontane und nicht genehmigte Demonstration statt, an der zehntausende Aserbaidschaner teilnahmen. Grund der Kundgebung: das Gedenken an den aserbaidschanischen General Polad Haschimov, der bei den Gefechten mit Armenien am 14. Juli getötet wurde. Das Ganze geschah vor dem Märtyrerfriedhof, der sich in der Nähe des aserbaidschanischen Parlaments befindet. Dass die Demonstranten für die Ehrung ausgerechnet diesen Ort ausgesucht haben, hat auch einen historischen Grund. Denn im Verlauf der Jahre wirkte dieser Friedhof oftmals als Referenz- und Treffpunkt für Aserbaidschaner.

Ein Friedhof mit historischer Bedeutung

Die erste historische Bedeutung des Bergfriedhofs in Baku (az. Dağüstü qəbirstanlığı oder auch Çəmbərəkərənd qəbirstanlığı) ist mit den tragischen Ereignissen vom März 1918 verbunden, als die Bolschewiki zusammen mit den armenischen Daschnaken aufgrund der divergierenden religiösen Ansichten der Bevölkerung in Baku massenhaft Menschen ermordeten. Das Massaker dauerte vom 30. März bis zum 3. April 1918 an. Allein in Baku wurden über 12.000 Aserbaidschaner getötet. Mehrere Objekte, wie das Gebäude „Ismailiyyä“ oder die Minarette der Täzäpir-Moschee sowie die Redaktionen „Kaspij“ und „Atschig Söz“, wurden dabei zerstört oder beschädigt. Nach dem Massaker in Baku fanden weiterhin Massenmorde gegen die Aserbaidschaner in anderen Regionen statt, beispielsweise in der Provinz Karabach, in Guba, Şamaxı und auch im Süden Aserbaidschans. Damals retteten die osmanischen Truppen Aserbaidschaner vor weiteren Massakern.

Die getöteten Aserbaidschaner aus Baku begrub man auf dem dortigen Bergfriedhof. Den Märtyrern wurde wie bei „Aschura“ gedacht, einem der bedeutsamsten Feiertage für Muslime. Diese Ereignisse haben sich tief in das Gedächtnis der Aserbaidschaner eingebrannt. Sie gelten als bitteres Zeugnis für ein Volk, welches verstehen musste, dass es aufgrund seines Andersdenkens bestraft wurde. Grundsätzlich haben aber die tragischen Ereignisse vom Frühjahr 1918 zu einer Geschlossenheit der Aserbaidschaner geführt, die bis heute fortgesteht.

Sowjetische Periode

Nach der Annektion durch die Rotarmisten begannen die Kommunisten eine neue Geschichte Aserbaidschans zu schreiben. Dabei wurde der Bergfriedhof ausgelöscht und an seiner Stelle ein neuer Park errichtet – zu Ehren Sergej Kirows, dem ersten Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Aserbaidschans. Im Jahr 1934 wurde Kirow an seinem Arbeitsplatz in Leningrad getötet, 1935 dann im neu geschaffenen Park ein Ehrenmonument errichtet. Allerdings wurden beim Aufbau des Parkes auch die vorhandenen Grabsteine in die Planung und Gestaltung inkludiert. Der neue Park bekam den russischen Namen „Nagornyj Park“ (Bergpark) und erhielt offiziell den Titel „Kirows Park der Kultur und Erholung“. Die März-Ereignisse aus dem Jahr 1918 wurden in diesem Zuge anders interpretiert, sodass die 26 Kommissare der Kommune von Baku, u. a. Stepan Schaumjan, der Führer des Massakers an den Aserbaidschanern, plötzlich glorifiziert wurden. Obwohl dieser Ort mit seinem Restaurant namens „Družba narodov“ (Völkerfreundschaft) als Erholungsort für die sowjetischen Aserbaidschaner dienen sollte, erinnerte sich die lokale Bevölkerung von Baku weiterhin gut daran, dass hier einst ein Friedhof war, auf dem ihre Vorfahren bestattet wurden. Dieser Gedanke formte sich bis 1990, sodass sich die Aserbaidschaner mit der Zeit auflehnten und alsbald massenhaft gegen die Sowjetmacht in Baku protestierten.

Schlag ins Herz der Sowjetunion 

Im Januar 1990 war die Stimmung in Baku aufgrund der Ereignisse in Karabach vorbelastet. Die politische Führung verhängte am 15. Januar dann den Ausnahmezustand über das gesamte Territorium des sowjetischen Aserbaidschans. Dazu kamen noch Ausgangssperren in den Städten Baku und Gändschä, in kürzester Zeit stationierte man bis zu 40.000 sowjetische Soldaten in der Hauptstadt.

Obwohl die sowjetischen Truppen die unruhige Lage in der Stadt kontrollieren sollten, kam es in der Nacht zum 20. Januar 1990 zu einem Massaker an den Bürgern Bakus. Dabei wurden zwischen 131 und 170 Zivilisten getötet und 744 weitere verwundet. Am 21. Januar versuchten die Militärbehörden der UdSSR verzweifelt, den Kolonnenzug vom Leninplatz (heute Azadlıq meydanı) mit den Särgen zum Bergfriedhof aufzuhalten.

Michail Gorbatschow versuchte die tragischen Ereignisse mit dem islamischen Fanatismus der Demonstranten zu rechtfertigen, indem er äußerte: „Verantwortungslose Hasardeure forderten die Abtrennung der Republik von der Sowjetunion und ein islamisches Aserbaidschan.” Die Proteste waren tatsächlich gegen Moskau gerichtet und propagierten die Unabhängigkeit Aserbaidschans. Unter den Opfern und Protestlern waren aber auch Vertreter unterschiedlicher Nationalitäten und Konfessionen.

Seit dem 20. Januar 1990 kam es dann zu Massenverbrennungen von Parteibüchern, um gegen die herrschende Aggression zu protestieren. Darüber hinaus liquidierte man ganze Partei- und Komsomol-Organisationen.

Märtyrerfriedhof nimmt neue Opfer an

Die tragischen Ereignisse im Januar 1990 haben den Zusammenbruch des 70-jährigen sowjetischen Imperiums durchaus beschleunigt. Schon im Jahr 1991 erlangte Aserbaidschan, wie andere ehemalige Sowjetrepubliken auch, die Unabhängigkeit. Aber Aserbaidschan erbte auch den Konflikt mit Armenien um die Region Bergkarabach.

Während des ersten Karabach-Krieges wurden die getöteten Märtyrer auch zum Teil an diesem für Aserbaidschaner magischen Ort begraben. Damit wurde der Friedhof zu einem Symbol für die Aserbaidschaner, indem sie ihn zu einer Gedenkstätte machten. Heute symbolisiert der Märtyrerfriedhof in Baku die Erinnerung an die Vergangenheit, den Kampf für die Unabhängigkeit und den Schutz der territorialen Ganzheit. Die Juli-Demonstration des letzten Jahres vor diesem Friedhof war deshalb kein Zufall.

Titelbild
^*^