Ausblicksmonat Dezember: Deutsche Ratingagenturen zur russischen Wirtschaft

Expert RA und Scope Ratings erwarten keine rasche Erholung des BIP

Der Dezember ist die Zeit der Rück- und Ausblicke. Wir berichten in diesem Artikel, wie zwei in Deutschland ansässige Rating-Agenturen die Entwicklung von Wachstum, Inflation und Staatshaushalt in Russland bewerten.

Das Statistikamt Rosstat teilte am Freitag in seiner „ersten Schätzung“ mit: Russlands Bruttoinlandsprodukt war in den ersten neun Monaten 2020 nur 3,4 Prozent niedriger als vor einem Jahr. Die Prognose der russischen Regierung, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion trotz der aktuellen Belastungen durch die zweite Welle der Corona-Pandemie in diesem Jahr nur um 3,9 Prozent sinken dürfte, gewinnt damit an Wahrscheinlichkeit. Auch in den Analysten-Umfragen von FocusEconomics, Reuters und Interfax wurde Ende November/Anfang Dezember im Durchschnitt nur noch mit einem Rückgang der Produktion um knapp 4 Prozent im Jahr 2020 gerechnet (siehe Ostexperte.de-Bericht). Auch „Fitch Ratings“ geht jetzt nur noch von einem Rückgang um 3,7 Prozent aus. Noch im September hatte die Agentur einen Rückgang um 4,9 Prozent prognostiziert.

„Expert RA“ und „Scope Ratings“ erwarten ein 4,5 Prozent niedrigeres BIP

Expert RA“, die Frankfurter Tochtergesellschaft der internationalen Rating-Agentur „RAEX“, und die Berliner Agentur „Scope Ratings“ veröffentlichten in der letzten Woche hingegen Analysen, in denen der diesjährige Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts auf 4,5 Prozent geschätzt wird. Beide Agenturen sehen auch die Perspektiven für die Erholung der Wirtschaft im nächsten Jahr mit einem Wachstum von 2,5 Prozent deutlich skeptischer als die Regierung (+ 3,3 Prozent).

Die Agenturen schlossen sich damit den Mitte November veröffentlichten Prognosen des „Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche“ für 2020 und 2021 an. Zu einer ähnlichen Einschätzung der BIP-Entwicklung waren bereits Ende Oktober der russische Rechnungshof und das Gaidar Institut in einer gemeinsamen Prognose gekommen (2020: – 4,2 Prozent; 2021: + 2,2 Prozent).

Die folgende Abbildung zeigt die Prognosen von „Expert RA“ zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (schwarze Linie) sowie zur Entwicklung der Verbraucherpreise (gelbe Säulen) und der Arbeitslosenquote (rote Linie) bis 2021.

Rating-Agentur Expert RA; Denis Anokhov: Research Report on Russia; 11.12.2020

„Expert RA“ verweist im „Research Report on Russia“ darauf, dass die Produktion in diesem Jahr durch das Abkommen zur Beschränkung der Ölförderung mit der OPEC+ und die gedrückte Nachfrage der Verbraucher gebremst wird.

Im nächsten Jahr hält die Agentur eine Erholung der Wirtschaft um 2,5 Prozent für möglich, falls die Beeinträchtigung der Produktion durch die Pandemie abflaut. Außerdem müßten sich die geldpolitischen Maßnahmen der Zentralbank und der von der Regierung beschlossene „Erholungsplan“ als wirksam erweisen. Dann könnte die Produktion der Wirtschaft im Jahr 2022 wieder auf den vor der Krise erreichten Stand kommen.

Langfristig sieht „Expert RA“ die Wachstumsmöglichkeiten der russischen Wirtschaft weiterhin durch die dominierende Rolle des Staates in der Wirtschaft und „verschiedene institutionelle Probleme“ beschränkt. Sie behinderten Investitionen und Innovationen.

Scope: In anderen europäischen Staaten sinkt das BIP 2020 noch stärker

Auch die Agentur „Scope Ratings“ nimmt im Rahmen ihres am 9.Dezember veröffentlichten „2021 Sovereign Outlook“ Stellung zur Entwicklung der russischen Wirtschaft. Sie hebt hervor, dass Russland im laufenden Jahr im internationalen Vergleich mit – 4,5 Prozent nur einen schwachen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion zu verkraften habe. Das sei vor allem der Struktur der russischen Wirtschaft zu verdanken. Der Dienstleistungssektor sowie kleine und mittlere Unternehmen spielten für die Wertschöpfung der russischen Wirtschaft eine geringere Rolle, der staatliche Sektor hingegen eine größere Rolle als in vielen anderen Volkswirtschaften.

Scope Ratings rechnet im Euro-Raum, aber auch in den meisten EU-Staaten in Mittel- und Osteuropa im Jahr 2020 mit einem stärkeren Rückgang des BIP als in Russland. Das zeigt die folgende Abbildung.

Scope Ratings: 2021 Sovereign Outlook; Seite 12, 09.12.2020

In den elf EU-Staaten in Mittel- und Osteuropa (CEE-11) erwartet die Agentur für 2020 insgesamt einen Rückgang des BIP um 5,3 Prozent. Die Wirtschaft im Euro-Raum werde noch deutlich mehr um 8,9 Prozent schrumpfen, also rund doppelt so stark wie die russische Wirtschaft (- 4,5 Prozent).

Im nächsten Jahr erholt sich Russlands Wirtschaft nur langsam

2021 rechnet „Scope Ratings“ wie „Expert RA“ in Russland nur mit einer schwachen Erholung um 2,5 Prozent. Das Wachstum im Euro-Raum werde mit 5,6 Prozent nach dem Einbruch um 8,9 Prozent deutlich stärker sein.

Scope Ratings: 2021 Sovereign Outlook; Seite 2, 09.12.2020

Basis für die Erholung der russischen Wirtschaft wird, so Scope Ratings, eine weitere Erholung der Ölpreise sein. Die Entwicklung auf dem Ölmarkt sei insbesondere angesichts der zweiten Welle der Pandemie aber ungewiss. Vereinbarungen im Rahmen der OPEC+ über eine Erhöhung der Ölförderung ab Januar könnten zu einem Überangebot führen.

Die Agentur geht davon aus, dass die Erholung der russischen Wirtschaft auch 2021 durch internationale Sanktionen erschwert wird. Unter der neuen US-Regierung sei auch eine Verschärfung der Sanktionen möglich. Gleichzeitig werde die Entwicklung in Russland weiterhin durch den Konflikt mit der Ukraine und die politische Instabilität im Nachbarland Belarus belastet.

Um das niedrige mittelfristige Wachstumspotenzial der Wirtschaft von 1,5 Prozent zu erhöhen, muss die russische Regierung nach Ansicht der Agentur mehr strukturelle Reformen vornehmen. Scope Ratings geht gleichzeitig davon aus, dass die Regierung ihre „kluge“ Fiskal-, Geld und Wechselkurspolitik fortführt. Das spreche für eine Beibehaltung des Ratings für russische Staatsanleihen.

Der Euro-Raum und viele östliche EU-Staaten erholen sich nicht schneller

Im Euro-Raum rechnet Scope im nächsten Jahr zwar mit einem Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 5,6 Prozent. Es wäre mehr als doppelt so stark wie in Russland (+ 2,5 Prozent). Von seinem Produktionsrückgang im Jahr 2020 um 8,9 Prozent würde der Euro-Raum damit aber wie Russland nur rund 55 Prozent aufholen.

Die elf östlichen EU-Staaten werden nach Einschätzung der Agentur 2021 insgesamt um 4,4 Prozent wachsen. Vom Rückgang ihrer Produktion im Jahr 2020 um 5,3 Prozent würden sie damit im nächsten Jahr rund 80 Prozent aufholen können. Sie wären im Verlauf des Jahres 2022 damit etwas früher als Russland und der Euro-Raum wieder auf dem vor der Krise erreichten Produktionsniveau.

Expert RA: Die Inflationsrate bleibt nahe beim 4-Prozent-Ziel

Die Agentur Expert RA nimmt in ihrem „Research Report on Russia“ auch kurz zur Inflationsentwicklung in Russland Stellung.

Sie erinnert daran, dass die Zentralbank im Verlauf des Jahres 2020 den Leitzins um 1,75 Prozentpunkte auf ein „Rekord-Tief“ von 4,25 Prozent senkte, um die inländische Nachfrage zu stabilisieren. Die Abnahme der Wirtschaftsaktivitäten durch die Auswirkungen der Pandemie und niedrige Inflationsrisiken hätten der Zentralbank die Möglichkeit zu den Zinssenkungen geboten. Der Zentralbank sei es so gelungen, die Bedingungen für einen Rückgang der Zinsen für Kredite zu schaffen.

Die folgende Abbildung zeigt die Senkung des Leitzinses auf 4,25 Prozent (schwarze Linie). Gleichzeitig ist die Inflationsrate (rote Linie) gestiegen.

Rating-Agentur Expert RA; Denis Anokhov: Research Report on Russia; S.3; 11.12.2020

Der Expert RA-Bericht vermerkt, dass sich der Anstieg der Verbraucherpreise im November auf 4,4 Prozent beschleunigt hat. Er überschritt das Inflationsziel der Zentralbank von 4 Prozent. Als Ursache für den Preisauftrieb nennt Expert RA die Abwertung des Rubels, die bis Anfang November anhielt. Die Agentur ist jedoch zuversichtlich, dass die Inflationsrate in diesem Jahr angesichts der preisdämpfenden Wirkung der flauen Nachfrage nahe beim Inflationsziel der Zentralbank von 4 Prozent liegen wird.

Alfa Bank-Chefvolkswirtin warnt vor unerwartet starkem Preisanstieg

Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa Bank, vermutet in einem Kommentar hingegen, dass sich der Anstieg der Verbraucherpreise im Dezember 2020 auf 4,7 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat beschleunigen dürfte. Die Inflationsrate wäre damit deutlich höher als die Zentralbank im Oktober für das Jahresende prognostizierte (3,9 bis 4,2 Prozent).

In der ersten Dezember Woche hat sich, so Orlova, der Preisanstieg gegenüber der Vorwoche auf 0,2 Prozent beschleunigt (Rosstat-Bericht). Eigentlich habe sie angesichts der Aufwertung des Rubels gegenüber dem Dollar seit Anfang November ein Nachlassen des Inflationsdrucks erwartet. Die Alfa Bank-Chefvolkswirtin wiederholt ihre Einschätzung, dass die Zentralbank bei der nächsten Leitzinsentscheidung am kommenden Freitag und auch im ersten Quartal 2021 eine Pause bei den Leitzinssenkungen einlegen dürfte.

Auch Tatiana Evdokimova, frühere Chef-Volkswirtin für Russland der Nordea Bank, sieht keinen Spielraum für eine Senkung des Leitzinses bis zum Ende des ersten Quartals 2021. Sie weist darauf hin, dass die Kerninflationsrate im November saisonbereinigt 0,47 Prozent höher war als im Vormonat. Das entspreche auf Jahresrate hochgerechnet einer Inflationsrate von rund 6 Prozent (Tweet mit Chart).

Eine detaillierte Analyse der Preisentwicklung im November und in der ersten Dezember-Woche bietet der „Economic Monitoring“-Bericht des Rechnungshofes von Dmitry A. Zaitsev vom 10. Dezember.

Der beschleunigte Preisanstieg wurde auch von Präsident Putin angesprochen. Die Regierung traf sich inzwischen mit Vertretern der Nahrungsmittelindustrie und des Handels zu Beratungen über eine Stabilisierung der Preise (siehe Lesetipps).

Expert RA: Haushaltsdefizit schwächt die staatliche Kreditwürdigkeit nicht

Das gesamtstaatliche Haushaltsdefizit wird in Russland nach Einschätzung von Expert RA in diesem Jahr voraussichtlich 5,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen. 2019 wurde noch ein Überschuss von 1,9 Prozent des BIP verzeichnet.

Entwicklung des staatlichen Gesamthaushalts
Ausgaben, Einnahmen und Haushaltsaldo in Prozent des BIP

Rating-Agentur Expert RA; Denis Anokhov: Research Report on Russia; S.2; 11.12.2020

Die Abbildung zeigt auch die Entwicklung des Anteils der Staatsausgaben und der Staatseinnahmen am Bruttoinlandsprodukt.

Der Anteil der Ausgaben am BIP (schwarze Linie) erhöht sich 2020 deutlich auf rund 37 Prozent des BIP. Expert RA gibt an, dass die staatlichen Ausgaben zur Bekämpfung der Pandemie 2020 fast 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erfordern.

Gleichzeitig sinkt der Anteil der staatlichen Einnahmen laut Expert RA auf rund 32 Prozent des BIP (rote Linie). Den am meisten betroffenen Branchen werden Steuerzahlungen gestundet und die staatlichen Einnahmen aus dem Ölbereich sinken.

Nach Ansicht von Expert RA wird durch diese Haushaltsentwicklung die Kreditwürdigkeit der russischen Regierung aber nicht beeinträchtigt.

Erstens sei die Staatsverschuldung Russland deutlich niedriger als in vielen anderen Entwicklungsländern. Die Schuldenaufnahme könnte erhöht werden.

Zweitens habe die Regierung beschlossen, dass zusätzliche Einnahmen aus dem Öl- und Gasbereich nicht dem Nationalen Wohlfahrtsfonds zugeleitet werden müssen, sondern zur Deckung von Ausgaben verwendet werden dürfen.

Weitere ausführliche Analysen der Konjunkturentwicklung in Russland veröffentlichten nach der Alfa Bank in der letzten Woche auch die Bank Uralsib und die ING Bank.

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Quellen und Lesetipps:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Neue Analysen zur russischen Wirtschaft von Rating-Agenturen und Banken

BIP-Rückgang im Zeitraum Januar bis September betrug nur 3,4 Prozent

Geldpolitik: Inflationsanstieg und Vorberichte zur Leitzinsentscheidung am 18.12.2020

Verbraucherpreisanstieg beschleunigte sich im November und Anfang Dezember

Zentralbank: Berichte und Prognosen

Wöchentliche Berichte zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik

Sonstige periodische Berichte zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik

Weitere Berichte zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland

Deutsch-russische Beziehungen

Internationaler Währungsfonds: Article IV Statement zur russischen Wirtschaft, 24.11.2020

Konjunkturberichte für Oktober 2020

Over nine months, Russia’s GDP decreased by 3.5% – Rosstat

Investments in fixed assets in the Russian Federation fell by 4.1% in 9 months – Rosstat;

Retail trade turnover slowed down to 2.4% in October – Rosstat;

The number of unemployed in October decreased for the second month in a row – Rosstat;

The growth of wages in real terms in September accelerated to 2.2% – Rosstat;

Housing construction in October grew by 2%, over 10 months – decreased by 5.6% – Rosstat;

In October, agricultural production decreased for the first time since December 2018

Länderberichte von Außenwirtschaftsorganisationen, Wirtschaftsverbänden, Instituten