WIIW: Konjunktur in Russland und der Ukraine im Zeichen des Kriegs

Wie viele andere Konjunkturforschungsinstitute hat jetzt auch das „Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche“, WIIW, seine Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft deutlich weiter erhöht. Statt eines Anstiegs der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 1 Prozent erwartet das auf die Analyse der Volkswirtschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa spezialisierte Institut in seiner am 11. Oktober veröffentlichten „Herbstprognose“ jetzt ein Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent. Das wäre noch etwas mehr als der Internationale Währungsfonds am Tag zuvor für Russland prognostizierte (+ 2,2 Prozent).

Das Wiener Institut sieht auch die Entwicklung der russischen Wirtschaft in den beiden nächsten Jahren im Vergleich mit anderen westlichen Beobachtern relativ positiv. Das WIIW rechnet lediglich mit einem Abflauen des Wachstums auf 1,9 Prozent im Jahr 2024 und auf 1,7 Prozent im Jahr 2025. Der IWF geht hingegen davon aus, dass sich das Wirtschaftswachstum in Russland schon im nächsten Jahr halbiert und auf 1,1 Prozent zurückfällt.

Russlands Wirtschaft schneidet im Vergleich mit der Ukraine und der EU günstig ab

Die „Herbstprognose“ des WIIW ermöglicht auch einen Vergleich der Konjunkturentwicklung in Russland und in der Ukraine. Er zeigt, dass der Krieg in der Ukraine deren Wirtschaft viel stärker schadet als der russischen Wirtschaft.

Hinweise zu den Auswirkungen der westlichen Sanktionen gegenüber Russland gibt ein Vergleich der Konjunkturprognosen des WIIW für Russland und die EU-Staaten. Er lässt erkennen, dass sich die russische Wirtschaft 2023 und 2024 auch im Vergleich mit der Wirtschaft in der EU günstig entwickelt.

WIIW: Der „Rüstungsboom“ zieht Russlands Konjunktur nach oben

Als Ursache der raschen Erholung der russischen Wirtschaft von ihrer Rezession im letzten Jahr (- 2,1 Prozent) nennt das WIIW die stark gestiegenen Rüstungsausgaben. Die Pressemitteilung des WIIW zitiert Vasily Astrov, Russland-Experte des Instituts:

„Die enorme Erhöhung der Militärausgaben befeuert einen Rüstungsboom, der gemeinsam mit stark steigenden Reallöhnen aufgrund des akuten Arbeitskräftemangels die Konjunktur nach oben zieht“

Die Auslastung der Produktionskapazitäten bewegt sich, so das WIIW, auf einem Allzeithoch, die Arbeitslosigkeit auf einem Rekordtief.

Die Sanktionen führen zu einer „Primitivisierung der Wirtschaft“

Das WIIW stellt fest, dass die westlichen Sanktionen Russlands „Militärproduktion“ bisher nicht im erhofften Ausmaß treffen konnten. Russland beschaffe sich alle für seine Rüstungsindustrie notwendigen Hightech-Bauteile aus dem Westen mittlerweile über Drittstaaten, sagt Astrov.

Die teilweise sehr aufwendige Umgehung der Sanktionen reiche aber nicht, um auch die restliche Wirtschaft ausreichend mit westlicher Hochtechnologie zu versorgen. Deshalb wird es nach Einschätzung Astrovs zu einer „Primitivisierung der russischen Wirtschaft“ kommen. Gemeinsam mit der immer stärkeren Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von steigenden Rüstungsausgaben dürfte das ihre Wachstumsaussichten mittelfristig stark begrenzen. Für die Zeit nach dem Krieg sieht das WIIW im „Country Overview Russia“ das Risiko einer Stagnation der russischen Wirtschaft (oder sogar einer „regelrechten Krise“).

IWF-Direktor Kammer: Die längerfristigen Perspektiven sind düster

Der Europa-Direktor des Internationalen Währungsfonds, Alfred Kammer, unterstrich bei der IWF-Tagung in Marrakesch, der beträchtliche fiskalische Impuls durch die Steigerung der Rüstungsausgaben werde das Wachstum der russischen Wirtschaft nur kurzfristig nach oben treiben. Die längerfristigen Perspektiven für die russische Wirtschaft seien düster, berichtet Reuters. Kammer verwies zur Begründung auf die Sanktionen. Die Einschränkung des Technologietransfers werde die Produktionskapazitäten und das Wachstum der Produktivität in Russland mittelfristig beeinträchtigen.

Laut WIIW wächst Russlands Wirtschaft 2024 aber noch um fast 2 Prozent

Während die Mehrheit der Beobachter (wie zum Beispiel der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die führenden deutschen Konjunkturforschungsinstitute in ihrer „Gemeinschaftsdiagnose“) schon im nächsten Jahr einen starken Rückgang des Wachstums der russischen Wirtschaft auf nur noch rund 1 Prozent erwartet, geht das WIIW davon aus, dass Russlands Wirtschaftswachstum 2024 noch fast 2 Prozent erreicht.

Bei dieser Produktionsentwicklung wird die Arbeitslosenquote nach Einschätzung des WIIW im Jahresdurchschnitt 2023 auf 3,3 Prozent sinken und in den nächsten Jahren noch etwas niedriger sein.

Das zeigt das WIIW im „Country Overview Russia“ in der folgenden tabellarischen Übersicht.

 

Wichtige Wirtschaftsindikatoren Russlands

WIIW,  Country Overview Russia, 10.10.23

 

Zur Vertrauenswürdigkeit der russischen Wirtschaftsstatistiken sagte Vasily Astrov der Zeitung „Der Standard“, soweit Daten für Russlands Wirtschaftsentwicklung überhaupt vorhanden seien, könne man ihnen vertrauen. Die Modellrechnungen des WIIW stünden weitgehend im Einklang mit den offiziellen Statistiken.

Die Inflationsrate sinkt im Jahresdurchschnitt 2024 deutlich

Das WIIW weist in seinem Länderüberblick Russland darauf hin, dass niedrige Ölpreise und eine starke Erholung der Einfuhren seit Anfang 2023 zu einer Abwertung des Rubels um rund 30 Prozent geführt haben. Daraufhin habe die Zentralbank ihre Geldpolitik drastisch verschärft.

Die Zentralbank, so die WIIW-Pressemitteilung, befürchtet bereits eine „Überhitzung der Wirtschaft“, die die Inflation in Kombination mit dem schwächeren Rubel anheizen könnte.

Im Jahresvergleich 2023/2022 erwartet jedoch auch das WIIW mit 5,6 Prozent eine deutlich niedrigere Inflationsrate als im Vorjahr. Im letzten Jahr hatte sich die Inflationsrate auf 13,8 Prozent verdoppelt. Im Jahresdurchschnitt 2024 rechnet das WIIW mit einem weiteren Rückgang der Inflationsrate auf 4,9 Prozent.

WIIW: Das Haushaltsdefizit bleibt für Russland „tragbar“

Das WIIW erwartet, dass sich Russlands gesamtstaatliches Haushaltsdefizit in diesem Jahr angesichts der hohen Rüstungsausgaben zwar fast verdoppelt und von 1,4 Prozent auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigt. Dieser Anstieg scheint Vasily Astrov aber „tragbar“. Er meint: „Putin wird seinen Angriffskrieg leider noch länger finanzieren können.“

Das WIIW erwartet in den nächsten beiden Jahren einen Rückgang des gesamtstaatlichen Haushaltsdefizits (2024: 2,0 Prozent des BIP, 2025: 1,5 Prozent des BIP).

Der stark gestiegene Leistungsbilanzüberschuss sinkt deutlich

Russlands Leistungsbilanzüberschuss war im letzten Jahr wegen der stark gestiegenen Energiepreise auf 10,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen. 2023 wird der Leistungsbilanzüberschuss nach Einschätzung des WIIW nur noch 2,6 Prozent des BIP erreichen. Er fällt damit fast auf das Niveau des Jahres 2020 zurück.

Der Krieg traf die Wirtschaft der Ukraine viel härter als die russische Wirtschaft

Das WIIW analysierte auch die Entwicklung der Wirtschaft in der Ukraine. Russlands Krieg gegen die Ukraine schadete der Wirtschaft der Ukraine viel mehr als der russischen Wirtschaft.

Im ersten Kriegsjahr 2022 ist das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine laut WIIW um rund 29 Prozent eingebrochen, während Russlands BIP „nur“ um 2,1 Prozent sank. Die Industrieproduktion der Ukraine verringerte sich dabei um rund 37 Prozent (Anstieg in Russland um 0,6 Prozent).

Die Arbeitslosenquote stieg 2022 in der Ukraine von rund 10 Prozent auf rund 25 Prozent (Russland: Rückgang auf 3,9 Prozent).

Das Inflationstempo verdoppelte sich in beiden Ländern. In der Ukraine beschleunigte sich der Anstieg der Verbraucherpreise von 9,4 Prozent im Jahr 2021 auf 20,2 Prozent im Jahr 2022. In Russland stieg die Inflationsrate von 6,7 auf 13,8 Prozent. Sie blieb damit deutlich niedriger als in der Ukraine

Die Zahl der Einwohner der Ukraine sank laut dem WIIW 2022 um rund 15 Prozent von 41,4 Millionen auf rund 35 Millionen (Russland: Anstieg der Bevölkerung um rund 0,5 Prozent).

 

Wichtige Wirtschaftsindikatoren der Ukraine

WIIW,  Country Overview Ukraine, 10.10.23

 

2023 beginnt die Erholung der Wirtschaft der Ukraine

 Nach Einschätzung des WIIW beginnt die Erholung der Wirtschaft der Ukraine von ihrem tiefen Einbruch, mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts im laufenden Jahr 2023 um 3,6 Prozent.

Das WIIW verweist darauf, dass die Exporte landwirtschaftlicher Produkte aus der Ukraine  gestiegen seien, obwohl Getreidespeicher und Verladehäfen an der Donau nach dem Ende des Getreideabkommens bombardiert wurden. Allerdings meint Olga Pindyuk, Ukraine-Expertin des WIIW, die von Polen und Ungarn verhängten Importverbote für ukrainisches Getreide seien ein ernstes Zeichen für die zunehmende Spaltung der EU in Bezug auf weitere Ukraine-Hilfen (siehe auch NZZ: Getreide aus der Ukraine: Polen will die Ukraine beim Export in Drittländer weiter unterstützen, 24.09.23)

Angesichts der hohen Kriegskosten, die das Defizit im ukrainischen Staatshaushalt 2023 voraussichtlich von rund 16 Prozent auf rund 27 Prozent des BIP steigen lassen, wäre jede Kürzung der westlichen Hilfsgelder für die Ukraine „verheerend“, warnt Pindyuk.

Der IWF erwartet eine langsamere Erholung der Ukraine als das WIIW

BOFIT, das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, hat in seinem am Freitag veröffentlichten Wochenbericht, die langfristige Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion in der Ukraine seit dem Jahr 2000 analysiert. Das Institut berichtet auch, wie stark sich das Bruttoinlandsprodukt laut den Prognosen des Internationalen Währungsfonds bis 2025 erholen wird.

Die folgende BOFIT-Abbildung zeigt, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion der Ukraine von 2000 bis 2008 sehr stark um rund zwei Drittel stieg. Danach setzte ein Abwärtstrend ein.

Index des realen Bruttoinlandsprodukts der Ukraine ( 2000=100)

Sources: IMF, BOFIT

 

BOFIT: Ukraine’s economy returns to growth, but recovery from war’s destruction takes time, 13.10.23

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Im ersten Kriegsjahr 2022 brach der Index des realen Bruttoinlandsprodukts dann um rund 29 Prozent ein (von rund 146 auf rund 104 Indexpunkte). Laut den Prognosen des Internationalen Währungsfonds wird die Ukraine diesen Einbruch in den drei Jahren 2023 bis 2025 nur zu gut einem Viertel aufholen können.

Die Prognosen für die BIP-Entwicklung in der Ukraine unterscheiden sich jedoch sehr stark. Das zeigt schon ein Vergleich der Prognosen für 2023. Der IWF erwartet in seinem „World Economic Outlook“ für 2023 in der Ukraine ein reales Wachstum von 2,0 Prozent, nur gut halb so viel wie das WIIW prognostiziert (+ 3,6 Prozent). Vom Research-Unternehmen Consensus Economics wurde laut BOFIT für das diesjährige Wachstums der ukrainischen Wirtschaft bei Banken und Forschungsinstituten eine durchschnittliche Wachstumsprognose von 2,7 Prozent ermittelt. Die Zentralbank der Ukraine hat im August für 2023 ein reales Wachstum der ukrainischen Wirtschaft von 2,9 Prozent prognostiziert.

Das ukrainische Wirtschaftsministerium erwartet hingegen in diesem und im nächsten Jahr ein Wirtschaftswachstum von jeweils rund 4 Prozent. Das bekräftigte Handelsministerin Julia Swyrydenko am 06. Oktober. Laut dem Ministerium ist das Bruttoinlandsprodukt in den ersten neun Monaten nach vorläufigen Daten um 5,3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gewachsen (s. auch Tagesschau.de).

Prognosen für Russland im Vergleich mit den Prognosen für die Ukraine und die EU

Die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ vergleicht in der folgenden Abbildung die WIIW-Angaben für die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, den Anstieg der Verbraucherpreise und die Arbeitslosenquote in der EU-27, in Russland und in der Ukraine im Jahr 2022 und im Prognosezeitraum 2023 bis 2025.

Konjunktur im Vergleich: EU-27, Russland und Ukraine

Der Standard, Jakob Pflügl: Mehr als zwei Prozent Wachstum: “Russland kann Krieg leider noch länger finanzieren”, 11.10.23; Bildadresse

WIIW: Die Konjunktur in Russland entwickelt sich besser als in der EU-27

Im Vergleich Russlands mit der EU-27 schneidet Russland laut den Prognosen des WIIW im Jahr 2023 hinsichtlich Wachstum, Inflation und Arbeitslosigkeit günstig ab.

Die russische Wirtschaft wächst voraussichtlich deutlich stärker (+ 2,3 Prozent) als die Wirtschaft in der EU-27 (+ 0,7 Prozent).

Der Anstieg der Verbraucherpreise ist in Russland im Jahresvergleich 2023/2022 voraussichtlich etwas niedriger (+ 5,6 Prozent) als in der EU-27 (+ 5,9 Prozent).

Die Arbeitslosenquote bleibt in Russland im Jahresdurchschnitt 2023 mit 3,3 Prozent deutlich niedriger als in der EU-27 (5,8 Prozent).

Auch 2024 wird die russische Wirtschaft laut dem WIIW stärker wachsen (+1,9 Prozent) als die EU-27 (+ 1,4 Prozent).  Die Inflationsrate wird dann allerdings in der EU-27 mit 3,4 Prozent merklich niedriger sein als in Russland (4,9 Prozent).

BIP-Prognosen für Russland 2023 und 2024

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

 

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

 

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

 

Titelbild
  Quelle:
https://unsplash.com/photos/IkK_G_dAghc