Regionen-Treff zu ESG-Agenda in Genf
Im Mai 2022 findet das erste Forum für interregionale Kooperation und nachhaltige Entwicklung (GEFOR) in der UNO-Vertretungsstelle in Genf statt. Ziel des Forums: Den Dialog zwischen Regionen aus der Russischen Föderation und EU-Ländern unterstützen.
Von Svyatoslav Andrianov und Dr. Aleksei Pilko.
Warum ist es so wichtig, einen regionalen Track des russisch-europäischen Dialogs in Gang zu bringen, welche Rolle nehmen die globalen Nachhaltigkeitsziele dabei ein – und wie kann das der Normalisierung der Beziehungen zwischen Russland und Europa helfen? Darüber berichten in diesem Artikel die Organisatoren des Forums, Svytoslav Andrianov und Dr. Aleksei Pilko.
Im September 2015 war man sich einig: die Menschheit verdient eine bessere Zukunft. 193 Länder trafen daher in der Plenarsitzung der UN-Generalversammlung eine Verabredung darüber, dass es notwendig sei, die Entwicklung der Weltwirtschaft zu harmonisieren. So entstanden die 17 Ziele für die nachhaltige Entwicklung der Vereinigten Nationen.
Drei Hauptkomponenten bilden die Grundlage der Ziele für die nachhaltige Entwicklung: die wirtschaftliche, soziale und ökologische Ebene. Von Anfang an scheinen sie wie eine schöne Deklaration der idealen Welt der Zukunft zu sein, wonach alle Länder der Welt streben sollten. Darunter sind wirklich anspruchsvolle und nutzbringende, aber zugleich sehr schwer erreichbare Aufgaben. Zum Beispiel die totale Beseitigung der Armut und des Hungers, die Bekämpfung des Klimawandels, nachhaltige Nutzung der Naturschätze, die Gewährleistung der qualitativen Bildung und Effizienzsteigerung der Produktion, oder der Zugang zu preiswerter Energie und Geschlechtergleichstellung.
Die Ereignisse der letzten Jahre zeigen jedoch, dass die Ziele der UNO für die nachhaltige Entwicklung einen nach und nach völlig praktischen Charakter bekommen und zur dominierenden globalen Agenda werden – die schon in naher Zukunft die Spielregeln für die Weltwirtschaft bestimmen. Trotz der ursprünglichen hohen Erwartungen sind sie zu einem Programm geworden, das fast alle Industrieländer unterschrieben haben, inklusive Russland.
Der Teufel steckt im Detail
Somit ist der Aktionsplan abgestimmt und seine Nichterfüllung bedeutet abseits der modernen Welt zu bleiben. Aber, wie so häufig, steckt der Teufel im Detail. Die Ziele für die nachhaltige Entwicklung sind festgelegt, aber die Roadmaps dafür werden noch erarbeitet. Dabei können Probleme entstehen: wie interpretiert man diese Ziele, und wie werden sie erreicht? Denn jedes Land hat eigene Ansichten, die eng verbunden sind mit den nationalen Interessen, vorhandenen Ressourcen und dem Wirtschaftspotential.
Zum Beispiel besitzt Deutschland keine große Menge an Bodenschätzen und setzt deswegen auf die „grüne Energie“, die ausschließlich auf erneuerbaren Energiequellen beruht: Sonne, Wind und Wasser. Frankreich ist mit Deutschland solidarisch, nimmt aber eine wesentliche Korrektur der deutschen Pläne vor – es beharrt auf die Anerkennung der Atomenergie als „grün“, weil die Atomkraftwerke den größten Teil der Elektrizität in Frankreich produzieren.
Die Mehrheit der EU-Länder fordert, die Nutzung von Kohlekraftwerken aufzugeben, weil sie zu starken Treibhausgas-Emissionen führt. Währenddessen kann zum Beispiel China – die weltweit zweitgrößte Volkswirtschaft –es sich nicht erlauben, das zu tun (zumindest in mittelfristiger Perspektive). Mit dem gleichen Problem sieht sich auch Indien konfrontiert.
Eine besondere Frage ist die Bekämpfung des Klimawandels. Viele Länder äußerten auf dem Klimagipfel in Glasgow im November 2021 ihr Streben, die Kohlenstoffneutralität zu erreichen. Offen bleiben aber noch viele Fragen zu den Berechnungsmethoden. Russland zum Beispiel besitzt riesengroße Waldflächen (rund 20 Prozent des Gesamtbestandes der Welt) und sollte das Recht haben, diese die „Lunge des Planeten“ zu nennen. Dabei vertritt das Land die Meinung, dass das durch diese „Lungen“ verarbeitete Kohlensäuregas auf die Kohlenstoffbilanz angerechnet werden sollte. Dieser Vorschlag findet gar kein Verständnis in der EU, die vorsieht, ab 2023 die sogenannte Kohlenstoffsteuer von den exportierten Waren zu erheben.
Notwendiger Dialog mit EU-Ländern
Das ist nur ein Beispiel des Widerspruchs in den Positionen von Russland und Europäischer Union zu dieser Fragestellung. Leider gibt es viele solcher Widersprüche. Dabei ist das Ziel für alle gleich. Die sozial-wirtschaftliche Weltagenda wurde durch die Vereinigten Nationen erarbeitet, und Russland ist deren Mitglied. Russland muss allerdings an dem Dialog mit internationalen Partnern, in erster Linie mit EU-Ländern, teilnehmen, um die Mittel und Mechanismen, die von der UNO vorgeschlagen wurden, maximal effektiv zu nutzen. Genau in einem offenen und aufrichtigen Dialog haben wir mehr Möglichkeiten, zur Einigung in einer Reihe von Widersprüchen zu kommen, die infolge der nationalen Besonderheiten der Interpretierung der Ziele für die nachhaltige Entwicklung entstanden sind.
Es ist wichtig zu betonen, dass in Russland wesentliche Schritte in dieser Richtung auf föderalem Niveau unternommen werden. Zu diesen Schritten gehört auch die Initiative, die ESG-Alliance zu gründen, und moderne Business-Praktiken umzusetzen unter Berücksichtigung der Einhaltung von Umweltstandards, sozialer Verantwortlichkeit und innovativer Prinzipien der Unternehmensführung.
Wir sind davon überzeugt, dass es für Russland sehr wichtig ist, an der Bildung der Agenda und der Interpretierung der UN-Nachhaltigkeitsziele teilzunehmen. Die Konkurrenz in der Weltwirtschaft ist hoch und wer an einem solchen Prozess nicht teilnimmt, bleibt erfahrungsgemäß von der Diskussion ausgeschlossen und wird gezwungen, die von den aktiven Prozessteilnehmern bestimmte Vorschriften zu akzeptieren.
Was ist für Russland wichtig?
Für Russland wäre es wichtig, dass die Atom- und Hydroenergetik konstitutionell zu einem Teil der „grünen Wirtschaft“ wird, die einen grundlegenden Bestandteil der Erreichung von Zielen für nachhaltige Entwicklung bildet, sowie das Erdgas als kohlenstoffarmer Brennstoff anerkannt wird. Gerade jetzt erfolgt die Normenerarbeitung für den internationalen Handel mit Kohlenstoffanteilen und Russland nimmt daran aktiv teil.
Außerdem wichtig: die Einbindung regionaler Strukturen. Während auf föderaler Ebene die Aufgabe klar definiert ist, an der Arbeit für die Interpretierung der UN-Ziele teilzunehmen, so arbeitet man daran in den russischen Regionen gar nicht oder nur rein formell. Unserer vollen Überzeugung nach lässt uns eben der regionale Track dieser Arbeit mit unseren europäischen Partnern in einen substanziellen und inhaltsreichen Dialog starten über die aktuellen Fragen einer modernen Wirtschaftsagenda.
Die Themen des Forums
Genau diese Aufgabe hilft das Forum für interregionale Zusammenarbeit und nachhaltige Entwicklung in Genf zu lösen, das auf die Unterstützung des Dialogs zwischen Russland und europäischen Ländern ausgerichtet ist. Seine Hauptthemen werden sein: die Diskussion zur Realisierung der UNO Ziele für die nachhaltige Entwicklung, Erfahrungsaustausch zu der Verbesserung des Investitionsklimas auf dem regionalen Niveau, Entwicklung von Investitionsprojekten, Steigerung der Energieeffizienz, Entwicklung von Infrastrukturprojekten, Weiterverarbeitung von Abfällen und die Einhaltung der modernen Umweltstandards.
Ein besonderes Thema wird der Erfahrungsaustausch und gegenseitige Beratungen zu der Einführung der ESG-Praktiken durch Business in russischen Regionen und in europäischen Ländern sein. Dieses Thema hat eine besonders wichtige Bedeutung, denn es betrifft praktische Fragen der Steigerung von Investitionsvolumen in zukünftige oder bereits realisierte Wirtschaftsprojekte entsprechend der UN-Ziele.
Trotz aller politischen Schwierigkeiten in den Beziehungen mit Russland gibt es in den EU-Ländern einen großen Bedarf an Wirtschaftskooperationen und dem Dialog zu den Fragen sozial-wirtschaftlicher Entwicklung, wobei das europäische Unternehmertum eine führende Rolle spielt. Genau diese These unterstützen die Ergebnisse des Internationalen Wirtschaftsforums in St. Petersburg, das im Juni 2021 stattgefunden hat, sowie des Eurasischen Wirtschaftsforums in Verona im Oktober des vergangenen Jahres.
Insbesondere zeigen großes Interesse am Forum in Genf folgende Bundesländer in Deutschland: Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen. In Österreich sind es Tirol und Vorarlberg, von den italienischen Regionen die Lombardei, Piemonte, Friuli-Venezia Giulia, Trentino-Alto Adige und einige andere.
Vor dem Forum für interregionale Kooperation und nachhaltige Entwicklung in Genf steht eine wichtige Aufgabe – die Anstrengungen föderaler Regierungen Russlands und Vertreter des europäischen Business durch die Bildung einer ständig funktionierenden und fachorientierten Plattform für den Dialog auf regionalem Niveau zu ergänzen.
Diese Plattform hat eine umfassende Bedeutung, sowie für die Qualitätssteigerung der sozial-wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU, als auch – was nicht minder wichtig ist – für die Förderung der Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele.
Wir laden alle interessierten Seiten herzlich ein, an unserem internationalen Projekt teilzunehmen!
Svyatoslav Andrianov ist Direktor des Zentrums für politische Analyse und Informationssicherheit, einer internationalen NGO mit besonderem konsultativem Status beim UN ECOSOC, und Senatsmitglied des Bundesverbands für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft e.V. (BWA).