Bleibt die Konjunkturerholung in Russland so lahm?

Bleibt die Konjunkturerholung in Russland so lahm?

2017 wuchs die Wirtschaft in Russland nur um 1,5 Prozent. Die 3Sat-Wirtschaftssendung „Makro“ fragte Experten nach den Chancen für einen kräftigen Aufschwung.

Das russische Statistikamt Rosstat veröffentlichte Anfang Februar erste Daten für die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Produktion im letzten Jahr. Das Bruttoinlandsprodukt stieg 2017 lediglich um 1,5 Prozent. Der Rückgang in den Rezessionsjahren 2015 und 2016 ist damit bisher nur gut zur Hälfte aufgeholt. Beschleunigt sich die Erholung nicht, wird die russische Wirtschaft erst Ende 2018 wieder das Niveau des Jahres 2014 erreichen. Am 23. Januar hatte Rosstat bereits mitgeteilt, dass die Industrieproduktion 2017 nur um 1 Prozent gestiegen ist.

Angesichts dieser Daten wunderte sich wohl mancher, welch positives Bild die Redaktion der 3Sat-Wirtschaftssendung „Makro“ in einer Einführung zu einer am Freitag ausgestrahlte Sendung zur russischen Wirtschaft zeichnete. Unter der Überschrift „Russlands Rückkehr – Auferstanden trotz Sanktionen“ heißt es auf der Makro-Seite:

„Wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen tritt Russland als ein wirtschaftlich erstarktes Land in Erscheinung, das in der Weltpolitik an Einfluss gewinnt. Alleine der deutsch-russische Handel erlebte zuletzt ein Plus von gut 20 Prozent.

Das Comeback der russischen Wirtschaft geht nicht nur auf das Konto des gestiegenen Ölpreises. Lob für die vorausschauende Politik der russischen Notenbank kommt selbst aus dem Ausland. Der Rubel ist wieder stabil, Inflation und Zinsen sind auf niedrigem Niveau.“

Zu Entwicklung und Perspektiven der russischen Wirtschaft befragte die Makro-Redaktion Professor Dr. Alexander Libman und Dr. Christian Wipperfürth. Wir haben Auszüge aus ihren Interviews zusammengestellt und durch aktuelle Daten und Charts zur russischen Konjunkturentwicklung ergänzt.

Professor Libman: Wirtschaft steckt in „andauernder Stagnation“

Als Studiogast der Sendung vermittelte Professor Dr. Alexander Libman einen deutlich negativeren Blick auf die russische Wirtschaft als die Einführung der Makro-Redaktion. Er rückte den langfristigen Wachstumstrend in den Fokus. Die russische Wirtschaft sei „mindestens seit 2013“ in einer „Stagnation“, stellte Libman gleich am Anfang des Gesprächs mit Eva Schmidt heraus. Das Wachstum der Produktion bewege sich mit kurzfristigen Schwankungen, die primär durch die Ölpreisentwicklung bedingt seien, seither um eine „Null-Linie“.

Professor Libman betreut seit 2016 das Aufgabengebiet „Sozialwissenschaftliche Osteuropastudien“ am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

In Putins erster Regierungszeit (2000-2008), so Libman in einem Vorab-Interview zur Makro-Sendung, habe Russland hingegen ein starkes Wirtschaftswachstum und eine drastische Verbesserung der Lebensqualität erlebt. Das hätte zwar nicht an der Wirtschaftspolitik von Putin gelegen, sondern an den hohen Ölpreisen. Viele in Russland schrieben diese Erfolge jedoch dem Präsidenten zu, meint Libman (Jahrgang 1981), der von 1998 bis 2005 in Moskau Wirtschaftswissenschaften studierte und russischer Staatsbürger ist.

Mangelnde Rechtssicherheit verhindert Investitionen

Wichtigste Wachstumshemmnisse für die russische Wirtschaft sind, das unterstrich Libman im Interview in der Sendung, nicht die westlichen Sanktionen, sondern „interne Probleme“, insbesondere die Rechtsunsicherheit, die Korruption und das Verhalten der öffentlichen Verwaltung (ab Minute 1:50).

Das größte Problem sei, dass russische Unternehmen nicht investierten, weil es für sie zu unsicher ist. Erfolgreiche Unternehmensgründer gerieten „früher oder später in das Visier der Bürokraten“. Das heiße unzählige Kontrollen, das heiße möglicherweise Korruption mit Zahlung von Bestechungsgeldern. „Das heißt, dass Sie ihr Eigentum gar nicht unbedingt behalten werden“, meinte Professor Libman sogar.

Dass sich Russland im Weltbank-Ranking „Doing Business“ im mehrjährigen Vergleich sehr stark verbessert hat, kam im Interview nicht zur Sprache.

Zur Wirkung der Sanktionen meinte Professor Libman, die Sanktionen seien auch eine Erklärung für die langfristigen Probleme der russischen Wirtschaft. Einerseits bekomme Russland wegen der Sanktionen keine neuen Technologien, die für die Zukunft des Landes entscheidend wichtig seien. Andererseits blieben auch Investitionen ausländischer Unternehmen in Russland aus, selbst wenn schon in Russland tätige Unternehmen das Land nicht verließen.

Einkommen gesunken – trotzdem wird die Regierung unterstützt

Zu den Auswirkungen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung auf die Bevölkerung wies Professor Libman darauf hin, dass die Einkommen der russischen Bürger sinken. Er fügte hinzu: Zum einen sind die Lebensmittelpreise deutlich gestiegen und zum anderen ist die Qualität des Angebots, vor allem im Lebensmittelbereich, deutlich schlechter geworden (ab Minute 3).

Die als Gegensanktion von russischer Seite verhängten Verbote, westliche Lebensmittel zu importieren, seien vor allem auf Kosten der ärmeren Bevölkerungsgruppen gegangen, weil der Anteil der Ausgaben für Lebensmittel mit sinkenden Einkommen steige. Die Bevölkerung sei unter dem Einfluss der Propaganda in den Medien aber bereit, „das Regime“ trotz der immer schlechteren Wirtschaftslage zu unterstützen. Er nennt dies den „Sieg des Fernsehers über den Kühlschrank“.

Konjunktur seit 2013: Einbruch des Einzelhandels und der Bauproduktion

Hinweise auf die Verschlechterung des Lebensstandards und den Rückgang der Bauinvestitionen geben Daten zur Entwicklung des realen Einzelhandelsumsatzes und der Bauproduktion im Jahr 2017, die im Januar veröffentlicht wurden. Gegenüber 2013 sind Einzelhandelsumsatz und Bauproduktion drastisch gesunken. Das zeigt eine Grafik, die Likka Korhonen, der Leiter des Forschungsinstituts „BOFIT“ der finnischen Zentralbank, twitterte. Im Informationsdienst „BOFIT weekly“ wird die Entwicklung näher erläutert.

Reale Produktionsentwicklung in wichtigen Wirtschaftssektoren

(Landwirtschaft, Rohstoffgewinnung, Bauproduktion, Warentransport, Verarbeitendes Gewerbe, Einzelhandel)

Grafik
Quelle: https://twitter.com/IikkaKorhonen; https://twitter.com/IikkaKorhonen/status/959392313708511232 Quellen: Likka Korhonen (BOFIT): Real-term trends in Russia’s core economic indicators; 02.02.2018; BOFIT weekly: Primary production up in Russia; manufacturing hardly at all; 02.02.2018;

2017 ist nur die Produktion der Bauwirtschaft weiter gesunken (- 1,4 Prozent). Der reale Einzelhandelsumsatz erholte sich nach sehr scharfem Rückgang in den Jahren 2015 und 2016 im letzten Jahr etwas (+ 1,2 Prozent).

Während der Einzelhandelsumsatz und die Bauproduktion 2017 rund 10 Prozent niedriger waren als 2013, stieg die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe in den letzten 4 Jahren geringfügig. Zu verdanken ist dies aber nur einem Anstieg im Jahr 2014. Seit 2016 stagniert die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe fast.

Ein kräftiges Wachstum gab es 2017 nur im Warentransport. In den letzten 4 Jahren hat sich ist die Produktion in diesem Wirtschaftsbereich um insgesamt knapp 8 Prozent erhöht. Mit einem relativ stetigen Wachstum ist auch die Produktion im Bereich der Rohstoffgewinnung seit 2013 um knapp 8 Prozent gestiegen.

Deutlich überdurchschnittlich legte im Vergleich der im Chart dargestellten Bereiche die Agrarproduktion zu. Dazu dürften die von der Regierung als Gegensanktionen verhängten Verbote des Imports von Lebensmitteln beigetragen haben.

Schwache Erholung der gesamtwirtschaftlichen Produktion

2017 konnte mit der Erholung des Bruttoinlandsprodukts um 1,5 Prozent der Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion in den vorangegangen beiden Jahren (2015: – 2,5 Prozent; 2016: – 0,2 Prozent) nur gut zur Hälfte ausgeglichen werden. Ohne Beschleunigung der Erholung wird die russische Wirtschaft erst Ende 2018 wieder den Produktionsstand des Jahres 2014 erreichen.

Wirtschaftsdaten 2015 bis 2017

Veränderung

2015 zu 2014

(in Prozent)

Veränderung

2016 zu 2015 

(in Prozent)

Jan.- Dez. 2017/

Jan.-Dez. 2016 

(in Prozent)

BIP-2,5-0,2+1,5
Anlageinvestitionen-11,2+0,8+3,6
Industrieproduktion-0,8+1,3+1,0
Bauproduktion-3,9-2,2-1,4
Realeinkommen-3,2-5,8-1,7
Reallöhne-9,0+0,8+3,4
Einzelhandelsumsatz-10-4,6+1,2

Quellen:

Die Anlageinvestitionen (валовое накопление основного капитала) steigen seit 2016 zwar wieder. Der Einbruch im Jahr 2015 um gut 11 Prozent ist aber erst knapp zur Hälfte ausgeglichen.

Die Industrieproduktion nahm 2017 insgesamt nur um 1 Prozent zu, ähnlich schwach wie 2016 (+ 1,3 Prozent). Das verarbeitende Gewerbe stagnierte sogar fast (+ 0,2 Prozent). Auch 2016 war es im Industrievergleich unterdurchschnittlich gestiegen (+ 0,5 Prozent).

Dr. Christian Wipperfürth: Warum die russische Wirtschaft wieder wächst

Zu der Sendung veröffentlichte Makro auch ein ausführliches Interview mit Ostexperte-Autor Dr. Christian Wipperfürth. Er meint zu den Ursachen für das Wachstum der russischen Wirtschaft im letzten Jahr:

„Der banale Hauptgrund ist der Wirtschaftszyklus: Einem Abschwung folgt in der Marktwirtschaft ein Aufschwung. Die Marktteilnehmer passen sich an und kämpfen sich aus der Talsohle hinaus.

Hinzu kommt der nach wie vor ziemlich niedrige Rubelkurs. Russische Unternehmer sind dadurch wettbewerbsfähiger.

Und die Importsubstitution spielt eine immer größere Rolle. Importe werden durch Eigenproduktionen ersetzt.

Darüberhinaus läuft es in weiten Bereichen der Landwirtschaft super. Dies betrifft insbesondere die Getreidewirtschaft. Russland fährt seit Jahren immer wieder Rekordernten ein. Die Getreideausfuhr bringt Russland mittlerweile mehr Geld als der Waffenexport.“

Aber zu niedrige Investitionsquote wegen fehlender Rechtssicherheit

Ähnlich wie Professor Libman meint aber auch Wipperfürth:

„Die Investitionsquote ist seit Jahrzehnten unzureichend niedrig, es müsste mehr Geld in Ausrüstungen und Gebäude gesteckt werden.“

Auch Wipperfürth vermisst die erforderliche Rechtssicherheit:

„Investoren müssen fürchten, um die Früchte ihrer Arbeit gebracht zu werden. Dies ist ein wichtiger Grund, dass Geld lieber im Ausland gebunkert, als investiert wird.“…

„Einige 10.000 Geschäftsleute werden inhaftiert, weil sie andere Leute stören. Nicht weil sie sich eines Vergehens schuldig gemacht haben, sondern weil andere Leute die Justiz instrumentalisieren.“

Im Hinblick auf die Rechtssicherheit stellt er aber Verbesserungen fest:

„Diese Situation ist in Russland mittlerweile besser geworden, weil Staatsanwälte und Richter besser bezahlt werden. Darüber hinaus hat es viele Jahre gedauert, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, neue Gesetze umzusetzen.“

Forderungen nach Senkung der ungewöhnlich hohen Realzinsen

Wipperfürth weist nicht nur auf die Abhängigkeit der Investitionen von rechtlichen Rahmenbedingungen hin. Er macht auch darauf aufmerksam, dass es in Russland Forderungen nach stärkeren Leitzinssenkungen gibt, damit mehr Kredite zur Finanzierung von Investitionen aufgenommen werden:

„Die Notenbank hat mit ihrer Politik die hohe Inflationsrate in den Griff bekommen. Die Inflationsrate ist mit etwa zwei Prozent so niedrig wie noch nie seit dem Ende der UdSSR.

Viele sind aber der Meinung, dass nicht die Dämpfung der Inflationsrate das Hauptziel sein sollte, sondern die Politik der Ankurbelung der Wirtschaft dienen sollte. Also: Zinsen runter, damit Verbraucher und Unternehmer Kredite aufnehmen können … . Die Kreditzinsen sind in Russland drei- bis viermal so hoch wie die Inflationsrate. Dies ist international ein sehr ungewöhnlich hoher Wert.“

Experten erwarten keinen kräftigen Aufschwung

Professor Libman und Dr. Wipperfürth beurteilen die Aussichten auf einen kräftigen Aufschwung der russischen Wirtschaft beide sehr skeptisch:

Professor Libman:

„Es gibt keine Gründe, von einem langfristigen Wirtschaftswachstum zu sprechen, obwohl es einige makroökonomische Gründe gibt, die zu einer Verbesserung der Wirtschaftslage in Russland führen wie beispielsweise der höhere Ölpreis, die gesunde Politik der Zentralbank und der damit verbundene Rückgang der Inflation.

Dennoch sind die fundamentalen Probleme des Landes nicht gelöst. Ohne starke rechtsstaatliche Institutionen, Verminderung der Korruption und stabile und planbare Zukunftsaussichten sind die russischen Unternehmen nicht bereit, Investitionen vorzunehmen.

Russland befindet sich nach wie vor in einer langfristigen Stagnation, die jedoch kurzfristige Verbesserungen der Wirtschaftslage nicht ausschließt.“

Dr. Wipperfürth:

„Aktuell ist das Wachstum der russischen Wirtschaft nur halb so hoch wie das weltweite Wirtschaftswachstum. Daran wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Russland hat schwierige Nachbarn, lange Grenzen und befindet sich in einer schwierigen Situation mit dem Westen.“

Wipperfürth: Regierung steht vor einer „schwierigen Gratwanderung“

Im Hinblick auf die anstehende weitere Amtszeit Putins meint Wipperfürth:

„Alle Beobachter sind sich einig: So kann es nicht weitergehen. Es muss sich etwas verändern, sonst könnte das Land in Turbulenzen geraten.“

Für die russische Führung stelle sich die Aufgabe für mehr Offenheit, Rechtssicherheit und Wirtschaftsdynamik zu sorgen. Die Regierung stehe vor der Frage: Wie können wir der Wirtschaft mehr Dynamik verleihen, ohne das politische System und die Stabilität des Landes zu gefährden? Wipperfürth sieht die Regierung vor einer schwierigen Gratwanderung.

Quellen und Lesetipps zur Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland

 3sat-Sendung „Makro“ am 02.02.2018:

„Russlands Rückkehr – Auferstanden trotz Sanktionen“

Interviews mit Professor Dr. Alexander Libman:

Interview mit Dr. Christian Wipperfürth:

„Ich bin skeptisch“; Russlands Wirtschaft: Aufschwung oder Zufall?

Konjunkturstatistik:

Rosstat: Entstehung, Verwendung und Verteilung des Bruttoinlandsprodukts 2017; 01.02.2018

Rosstat: Main economic and social indicators (Tabelle in englisch); Bericht in russisch; 25.01.2018

Konjunkturberichte und -kommentare:

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