Inflationsrate jedoch auf Beschleunigungskurs
Das russische Wirtschaftsministerium hat seine Prognosen der sozio-ökonomischen Entwicklung bis 2024 aktualisiert. Am Freitag erschienen dazu erste Presseberichte. Für das diesjährige Wachstum des Bruttoinlandsprodukts geht das Ministerium jetzt von + 3,8 Prozent aus. Außergewöhnlich optimistisch ist diese Einschätzung nicht – und nach der Erholungsphase droht die Rückkehr zu niedrigem Wachstum.
Mit einem noch kräftigeren Anstieg der Produktion der russischen Wirtschaft rechnet für dieses Jahr mit + 4,1 Prozent zum Beispiel die „Eurasische Entwicklungsbank (EDB)“. Das „Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw)“ hob seine Russland-Prognose in der letzten Woche auf + 3,5 Prozent an. In der jüngsten Umfrage von FocusEconomics bei internationalen Banken und Instituten stieg der Mittelwert der Prognosen für Russlands Wachstum auf + 3,4 Prozent.
Die Prognosen des wiiw für 23 Länder in Mittel-, Südost und Osteuropa und der EDB für wichtige Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zeigen, wie sich Russlands Konjunktur im internationalen Vergleich entwickelt.
Kräftige Erhöhung der Wachstumsprognose des Wirtschaftsministeriums
Noch Ende April hatte Russlands Wirtschaftsministerium seine Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft auf 2,9 Prozent gesenkt, obwohl der IWF seine Prognose kurz zuvor auf 3,8 Prozent angehoben hatte. Jetzt erwartet jedoch auch das Ministerium, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion im Jahr 2021 um 3,8 Prozent wächst, berichtet Finmarket.ru. Der Urals-Ölpreis werde dabei im Jahresdurchschnitt voraussichtlich rund 66 Dollar/Barrel erreichen (bisherige Prognose: rund 60 Dollar/Barrel).
Die Wirtschaft erhole sich schneller als erwartet, meinte ein Vertreter des Ministeriums. Im Mai war die gesamtwirtschaftliche Produktion nach Schätzungen des Ministeriums saisonbereinigt nur noch 0,3 Prozent niedriger als vor der Krise im vierten Quartal 2019. Das Ministerium nimmt an, dass das Bruttoinlandsprodukt im laufenden Monat Juli sein Vorkrisenniveau wieder erreicht.
Der Sprecher des Ministeriums betonte, dass in der neuen Prognose der aktuelle Anstieg der Corona-Infektionen berücksichtigt worden sei. Einige Regionen, insbesondere Moskau, hatten angesichts der neuen Infektionswelle erneute Beschränkungen der Produktion der Unternehmen angeordnet.
Privater Verbrauch und Investitionen steigen 2021 stärker als erwartet
Eine günstigere Entwicklung als bisher erwartet das Ministerium 2021 vor allem für die Produktion des Einzelhandels (+ 6,9 Prozent gegenüber 2020 statt +5,1 Prozent) und des Bereichs der privaten Dienstleistungen (+ 14,3 Prozent statt + 11,3 Prozent). Demgegenüber ließ es seine Prognose für die Produktion der Industrie unverändert (+ 2 Prozent). Die Prognose für das Wachstum der Anlageinvestitionen wurde von + 3,3 Prozent auf + 4,5 Prozent angehoben.
Mehr Wachstum sorgt für weniger Arbeitslosigkeit und steigende Löhne
Die Arbeitslosenquote wird nach Einschätzung des Ministeriums bis Ende 2021 auf 4,7 bis 4,8 Prozent sinken. Im Jahresdurchschnitt werde sie 5,1 Prozent betragen (bisherige Prognose: 5,2 Prozent). Deutlich angehoben hat das Ministerium seine Prognose für den diesjährigen Anstieg der Reallöhne (+ 3,2 Prozent statt bisher + 2 Prozent). Die Prognose für den Anstieg der insgesamt verfügbaren Realeinkommen der privaten Haushalte ließ es jedoch unverändert bei + 3,0 Prozent. Der Vertreter des Ministeriums verwies darauf, dass die übrigen Einkommen der privaten Haushalte im ersten Quartal 2021 schwächer als erwartet gestiegen seien.
Schon ab 2022 rechnen die meisten Analysten mit deutlich weniger Wachstum
Seine Prognosen für die Wachstumsraten des BIP ab 2022 behielt das Ministerium bei. Es erwartet weiterhin, dass die Wirtschaft 2022 um 3,2 Prozent und 2023 und 2024 um jeweils 3,0 Prozent wächst. Dabei nimmt es an, dass der Urals-Ölpreis bis 2024 auf 57,4 Dollar je Barrel sinken dürfte.
Wachstumsprognosen 2021 bis 2023
Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
2021 | 2022 | 2023 | ||
ING Bank, Amsterdam | 09.07.21 | 3,8 | 2,2 | 3,0 |
DekaBank, Frankfurt | 09.07.21 | 3,8 | 2,2 | |
Commerzbank, Frankfurt | 09.07.21 | 3,7 | 2,5 | |
Helaba, Frankfurt | 09.07.21 | 3,0 | 2,0 | |
Fitch Ratings | 09.07.21 | 3,7 | 2,7 | 2,0 |
Wirtschaftsministerium | 08.07.21 | 3,8 Urals 65,9 $/b | 3,2 Urals 64,8 $/b | 3,0 Urals 60,8 $/b |
wiiw, Wien | 07.07.21 | 3,5 | 3,0 | 2,6 |
Eurasische Entwicklungsbank, EDB | 07.07.21 | 4,1 | 2,2 | 2,4 |
FocusEconomics Consensus | 06.07.21 | 3,4 | 2,6 | 2,3 |
An ein dauerhaftes Wachstum von 3 Prozent und mehr glaubt aber außer der Regierung kaum jemand. Schon ab 2022 sehen die von FocusEconomics erfassten Prognosen internationaler Banken und Institute Russlands Wachstum deutlich sinken. Die Analysten erwarten laut der am 06. Juli veröffentlichten FocusEconomics-Umfrage in den Jahren 2022 und 2023 im Mittelwert jeweils rund ein Fünftel weniger Wachstum als die Regierung. Auch die Eurasische Entwicklungsbank rechnet damit, dass sich das von ihr erwartete starke diesjährige Wachstum (+ 4,1 Prozent) im nächsten Jahr fast halbiert und nur noch 2,2 Prozent erreicht.
Wie das Wirtschaftsministerium hoben auch die Frankfurter DekaBank und die Amsterdamer ING Bank, ihre jeweiligen Prognosen für Russlands Wirtschaftswachstum im Jahr 2021 am Freitag auf 3,8 Prozent an. Anders als das Ministerium rechnen beide Banken 2022 aber mit einer deutlichen Abschwächung des Wachstums auf nur noch 2,2 Prozent. DekaBank-Analystin Daria Orlova schreibt dazu in den „Emerging Markets Trends“:
„Nachdem die Nachkrisenerholung abgeschlossen ist, erwarten wir die Rückkehr zu niedrigem Wachstum, das Russland aufgrund struktureller Probleme bereits vor der Krise ausgezeichnet hat.“
Der Preisanstieg ist stärker als erwartet
Die kräftige Erholung der Produktion in Russland hat zu einem beschleunigten Anstieg der Preise beigetragen. Die folgende Abbildung aus dem Wochenbericht des Forschungsinstituts BOFIT der finnischen Zentralbank zeigt, dass sich der Anstieg der Verbraucherpreise insgesamt (graue Fläche) im Juni 2021 im Vorjahresvergleich weiter auf 6,5 Prozent beschleunigte. Überdurchschnittlich stark stiegen die Lebensmittelpreise (blaue Linie; + 7,9 Prozent). Der Preisanstieg bei den Dienstleistungen (rote Linie) beschleunigte sich zwar auch, blieb aber deutlich unterdurchschnittlich (+ 4,0 Prozent).
Anstieg der Verbraucherpreise
Veränderung gegenüber Vorjahresmonat in Prozent
Das Ministerium erwartet im Dezember noch 5 Prozent Inflation, die Alfa Bank 6,3 Prozent
Als der Verbraucherpreisanstieg im Frühjahr über 5 Prozent stieg, war meist erwartet worden, dass damit der Höhepunkt der Preiswelle erreicht sei. Das Wirtschaftsministerium rechnete in seiner letzten Prognose Ende April damit, dass der Anstieg der Verbraucherpreise bis zum Jahresende 2021 auf 4,3 Prozent sinken werde.
Angesichts des weiter beschleunigten Anstiegs der Verbraucherpreise auf 6,5 Prozent im Juni erwartet das Ministerium jetzt aber, dass die Inflationsrate im Dezember 2021 noch 5,0 Prozent erreichen wird. Damit würde der Anstieg der Verbraucherpreise Ende 2021 noch deutlich über dem von der Zentralbank angestrebten Ziel von 4 Prozent liegen.
Der Sprecher des Ministeriums wies zwar darauf hin, dass es im Juni insbesondere auf den Weltmärkten für Nahrungsmittel gegenüber Mai einen Preisrückgang gegeben habe. Die Normalisierung der Preise auf den Weltmärkten werde aber länger als bisher erwartet dauern. Die Lage sei unsicher. Das berichtet TASS.
Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa Bank, rechnet in einer ausführlichen Analyse der Preisentwicklung in Russland sogar damit, dass der Anstieg der Verbraucherpreise im Dezember 6,3 Prozent erreichen dürfte. Sie gibt zu bedenken, dass sich die Inflation unter dem Einfluss der Duma-Wahlen im September im vierten Quartal wieder beschleunigen könnte. Inflationstreibend könnte zum einen wirken, dass die Regierung im Vorfeld der Wahlen wahrscheinlich einige Ausgaben für Sozialleistungen erhöhen dürfte. Außerdem könne nicht ausgeschlossen werden, dass einige Einzelhandelsketten Preiserhöhungen aufschieben und erst nach den Wahlen im vierten Quartal vornehmen.
Dmitry Dolgin, Chef-Volkswirt Russland der ING Bank, hält im laufenden Monat Juli eine weitere Beschleunigung des Preisanstiegs auf 6,6 bis 6,7 Prozent für möglich. Er erwartet zum Jahresende mit 5,7 Prozent ebenfalls eine deutlich höhere Inflationsrate als das Wirtschaftsministerium.
Starke Leitzinserhöhung um bis zu einen Prozentpunkt wahrscheinlich
Angesichts erhöhter Inflationsrisiken meint Natalia Orlova (und auch Dolgin), dass die Zentralbank am 23. Juli ihren Leitzins um 0,75 Prozentpunkte von 5,5 Prozent auf 6,25 Prozent erhöhen wird. Bis zum Jahresende 2021 rechnet Orlova mit einer weiteren Anhebung des Leitzinses auf 7,0 Prozent.
Die Russland-Expertin der Frankfurter DekaBank, Daria Orlova, hält es sogar für möglich, dass die Zentralbank den Leitzins um einen ganzen Prozentpunkt erhöht. In den Emerging Markets Trends“ schreibt sie:
„Bereits im Juni hat das geldpolitische Komitee über eine Leitzinsanhebung von 100 Bp nachgedacht, hat sich allerdings für einen kleineren Schritt um 50 Bp auf 5,50% entschieden. Seitdem hat sich das Inflationsumfeld kaum verbessert: Die neue Corona-Welle hat den Inflationserwartungen einen neuen Schub verliehen und auch die realisierte Inflationsrate zeigte im Juni mit 0,7% mom (6,5% yoy) keine Verlangsamungstendenzen. Dadurch wird es wahrscheinlicher, dass sich die Zentralbank bei ihrer Sitzung Ende Juli für einen großen Schritt entscheidet und den Leitzins direkt auf 6,50% anhebt.“
Danach hält Daria Orlova bis zum Jahresende maximal noch eine weitere Erhöung auf 7 Prozent für möglich.
Im Jahresdurchschnitt 2021wird sich der Anstieg der Verbraucherpreise nach Einschätzung der DekaBank auf 5,7 Prozent beschleunigen. 2020 hatte er nur 3,4 Prozent betragen. Für den Jahresdurchschnitt 2022 erwartet die Bank bei einem Rückgang des Wirtschaftswachstums auf nur noch 2,2 Prozent ein Abflauen des Anstiegs der Verbraucherpreise auf 4,2 Prozent.
Russlands Konjunktur im internationalen Vergleich
Hinweise, wie schnell Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion im internationalen Vergleich wächst, geben in der letzten Woche veröffentlichte Prognosen des „Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw)“ und der „Eurasischen Entwicklungsbank (EDB)“.
Das wiiw veröffentlichte seine „Sommerprognosen“ mit Überblicken zur aktuellen Konjunkturentwicklung in den einzelnen Ländern („Countries Overview“) am 07. Juli. Folgende Tabelle aus der Präsentation zeigt die wiiw-Prognosen zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in den EU-Staaten in Mitteleuropa, in Ländern des Westbalkans, in der Türkei und in Ländern der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ sowie in der Ukraine. Die Prognosen für Russland stehen in der vorletzten Zeile.
Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts
Für das Jahr 2021 zeigt die Tabelle, dass Russlands Wirtschaftswachstum (+ 3,5 Prozent) insbesondere von der Türkei (+ 5,8 Prozent) übertroffen werden dürfte. In der Türkei war das BIP sogar auch 2020 gestiegen (+1,8 Prozent). Deutlich höhere Wachstumsraten als Russland dürften 2021 von den größeren Staaten auch Serbien (RS; + 6,0 Prozent), Rumänien (RO; + 5,2 Prozent) und Ungarn (HU; + 4,9 Prozent) erreichen.
Ungarns Bruttoinlandsprodukt sank 2020 allerdings auch stärker (- 5,0 Prozent) als das Russlands (- 3,0 Prozent). Wie Russland wird also auch Ungarn 2021 lediglich den Produktionsrückgang des Jahres 2020 in etwa aufholen können. Das gilt auch für die Ukraine (UA). Ihre Wirtschaft dürfte 2021 um 4,3 Prozent wachsen (2020: – 4,0 Prozent).
Ab 2022 wächst nur Belarus noch schwächer als Russland
2022 erwartet das wiiw für Russland mit 3,0 Prozent zwar noch ein stärkeres Wachstum als viele andere Beobachter. Auch bei 3 Prozent Wachstum fällt Russland im nächsten Jahr aber fast an das Ende der Wachstumsskala zurück. Schwächer als Russlands Wirtschaft wird laut wiiw nur die Wirtschaft in Belarus wachsen (BY; + 1,6 Prozent). Auch im Jahr 2023 dürfte das Wirtschaftswachstum in Russland mit + 2,6 Prozent deutlich schwächer sein als in allen anderen Ländern (mit Ausnahme von Belarus).
Auch im GUS-Vergleich ist Russland 2022 und 2023 wachstumsschwach
Die Eurasische Entwicklungsbank veröffentlichte am 07 Juli neue Prognosen für das Wirtschaftswachstum in einigen Staaten der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“. Danach wird Russland im laufenden Jahr zwar ein Wirtschaftswachstum von 4,1 Prozent erreichen. Ähnlich stark wachsen in diesem Jahr aber auch Kasachstan (+ 4,0 Prozent), Armenien (+ 4,2 Prozent) und Kirgisistan (+ 3,9 Prozent).
Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts
EDB-Mitglieder, Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, RF, Tadschikistan
Im nächsten Jahr dürfte Russland dann laut EDB deutlich schwächer wachsen als diese GUS-Länder. Während sich das Wachstum in Russland 2022 fast halbiert und nur noch 2,2 Prozent erreicht, dürfte es sich in Kasachstan auf + 4,4 Prozent beschleunigen, in Armenien auf + 4,7 Prozent und in Kirgisistan auf + 5,2 Prozent.
Schwächer als in Russland dürfte sich das BIP nur in Belarus entwickeln (2021: + 1,3 Prozent; 2022: 0,0 Prozent).
Mit Abstand am stärksten wird laut EDB die Wirtschaft in Tadschikistan wachsen, und zwar sowohl 2021 (+ 6,1 Prozent) als auch 2022 (+ 7,7 Prozent).
Zum langfristigen Wachstumspotenzial der russischen Wirtschaft erschien Anfang Juli von Iikka Korhonen, Leiter des Forschungsinstituts BOFIT der Bank of Finland, die Studie: Russia’s growth potential post-COVID-19.
Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:
- Steigende Wachstumsprognosen trotz neuer Corona-Welle; 05.07.2021
- Sberbank: Der BIP-Rückschlag durch Corona war schon im April aufgeholt; 28.06.2021
- Wie schnell erholen sich Produktion und Investitionen in Russland?; 21.06.2021
- Kräftige Zinserhöhung soll Inflation bremsen; neue BIP-Prognosen bis 2023; 14.06.2021
Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:
- Interview mit Matthias Warnig zum Abschluss der Nord Stream 2-Bauarbeiten
- Zentralbankdirektor Tremasow zu Konjunktur und Geldpolitik im Interview
- BIP-Verwendung im ersten Quartal
- COFACE.ru-Bericht zur gesamtwirtschaftlichen und sektoralen Entwicklung