Morgenkommentar am 16. Mai 2017

In Deutschland hofft man (allzu) euphorisch, die Seuche bis 2020 auszurotten – in Russland stieg die Zahl der Infizierten im Vorjahr um weitere 5,3 Prozent. Die Immunschwächekrankheit Aids hat ihren Schrecken noch nicht verloren. Das Wachstum bei den HIV-Infektionen lag 2016 zwar niedriger als in den Jahren zuvor, doch immer noch wurden rund 290 Neuerkrankungen registriert – an jedem einzelnen Tag.

Weltweit tragen 0,8 Prozent aller Menschen im Alter über 15 das HIV-Virus im Körper. In Deutschland sind es 0,15 Prozent, in Russland um ein Prozent. Die Dunkelziffer ist unbekannt. Mit der Ukraine und anderen Ex-Republiken der UdSSR streitet Russland sich um den Spitzenplatz bei der Durchseuchung in Europa. Kein ermutigender Rekord.

Die Ausbreitung entsprach anfangs nicht dem westlichen Muster. Nach 1990 tauchte Aids vor allem bei Drogenabhängigen und Prostituierten auf, zwei Zielgruppen, die sich weithin überlappen. Die russische Schwulenszene, seinerzeit isoliert und insular, war an der Ausbreitung nicht sonderlich beteiligt. Dadurch geriet Aids schon früh in die heterosexuelle Bevölkerungsmehrheit. Heute ist die HIV-Prävalenz am höchsten bei Männern im Alter von 35 bis 39, die ihrerseits jüngere Frauen anstecken.

Inzwischen hat das Virus die Fixerszene hinter sich gelassen. Spätestens seit 2016, wahrscheinlich schon wesentlich früher, ist die Hauptansteckungsursache der heterosexuelle Geschlechtsverkehr.

Die Politik reagiert halbherzig. Premierminister Dmitri Medwedjew hat 2016 ein mehrjähriges Programm aufgelegt, das jedoch mehr ein Dokument des guten Willens ist. Solange erzkonservative Politiker verkünden, Aids sei eine Erfindung des dekadenten Westens und ein anständiger Russe – das war auch schon zu hören – sei ohnehin immun, schenkt man dem ungeliebten Phänomen keine große Aufmerksamkeit. Hinzu kommt ein Charakterzug der russischen Mentalität, der, so charmant wie fatalistisch, auch ohne Aids die durchschnittliche Lebenserwartung dämpft: Mir passiert sowie nichts.