“Wir brauchen eine neue Ostpolitik!”

Ost-Ausschuss-Kolumne: „Wir brauchen eine neue Ostpolitik“

Der „Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de. Heute geht es um das Potenzial einer neuen Ostpolitik – sowohl für Russland, als auch für Deutschland.


Willkommen im Jahr des Erd-Schweins

So richtig hat das Jahr in Russland noch nicht begonnen. Vorgestern wurde das „alte neue Jahr“ begangen, und erst heute sind die meisten Russen zurück aus dem Urlaub. Doch schon seit dem Jahreswechsel beherrscht ein Thema die Diskussion: Wie wird es sich wirtschaftlich entwickeln, das „Jahr des Erd-Schweins“. Denn obwohl die meisten Russen christlich-orthodoxen Glaubens sind, übernehmen sie doch das jeweilige „Jahres-Sternzeichen“ aus der chinesischen Astrologie. Glaubt man den Sternendeutern, dann wird 2019 ein Jahr voller Glück, ein hervorragendes Jahr, um Geld zu verdienen, und ein gutes Jahr, um zu investieren, weil das Schwein in allen Lebensbereichen Erfolg hat. Ein bisschen klingt das nach Gordon Gekko. Zurück in der realen Welt, erwarten die Bevölkerung eine Mehrwertsteuererhöhung, ein sinkender Ölpreis und die Aussicht auf marginales bis gar kein Wachstum.

Schwacher Start erwartet

Aber es gibt wohl kaum ein Volk, vielleicht mit Ausnahme des jüdischen, das wie die Russen mit solcher Inbrunst über sich selbst lachen kann. Mit dem einen Unterschied, dass der russischen Selbstbespiegelung immer etwas Morbides innewohnt. Deshalb wird die Nachricht, dass auch 2019 ein durchwachsenes Jahr wird auf in Fatalismus geübte Russen treffen. Nur Andere sollten sich tunlichst davor hüten, Kritik an den bestehenden Zuständen im Land zu üben. Das kommt gar nicht gut an. Wer kann es den Russen verdenken. Wir werden schließlich auch nicht gern belehrt. Deshalb folgen an dieser Stelle auch nur Verweise auf Russen als Urheber. Die alles entscheidende Frage nach der wirtschaftlichen Entwicklung, beantwortet Oleg Sysuev von der Alpha-Bank so: „Die für uns beste Variante ist eine Fortsetzung der Stagnation.“ Und die Putinsche Allzweckwaffe als Mahner Alexej Kudrin, augenblicklich Chef des Rechnungshofes, früher Finanzminister orakelte auf Twitter: „Die Inflation ist höher als prognostiziert, das BIP-Wachstum ist niedriger, die Realeinkommen der Bürger sind, wenn überhaupt, nur um Zehntelprozente gewachsen. Bislang muss die Regierung von einem schwachen Start ausgehen.“

Das Mantra vom nicht ausgeschöpften Potential

Als ich vor knapp eineinhalb Jahrzehnten nach Russland umzog, war das gänzlich anders. Im Land herrschte Aufbruchstimmung. Eine Zahl geisterte durch die Community, die die Augen vieler Geschäftsleute zum Leuchten brachte: drei Millionen. Drei Millionen verkaufte Neufahrzeuge würden Russland einerseits an die Spitze der europäischen Auto-Märkte katapultieren und andererseits als Beweis dafür gelten, dass Russland den Sprung von einem Entwicklungsland zur Industrienation endgültig vollzogen hat. Damals schien das Ziel durchaus realistisch zu sein. Russland wuchs in Atem beraubendem Tempo. Sechs bis sieben Prozent Wirtschaftswachstum pro Jahr waren die Regel. Und 2012 war es dann fast so weit. Bis auf 100.000 Einheiten hatte man sich der magischen Zahl angenähert. Aber immer noch behauptete Deutschland die Spitzenposition. Heute muten drei Millionen verkaufte Neufahrzeuge geradezu utopisch an. Im allerbesten Fall darf man 2019 mit zwei Millionen rechnen. Ähnlich lange geistert das Mantra vom nicht ausgeschöpften Potential durch die Kommentarspalten der Zeitungen und die Reden der Politiker. Und gefühlt ewig, kündigen russische Politiker und mahnt die Wirtschaft Reformen an.

Reformen müssen her

Kann die Automobilindustrie den Zustand der russischen Wirtschaft widerspiegeln? Die Erfolge in der Landwirtschaft, der IT und Telekommunikation, der Rüstungsindustrie sind wesentlich evidenter. Außerdem ist ihr Anteil am Export signifikant höher als im Automobilsektor. Die Automobilwirtschaft steht stellvertretend für die russische Wirtschaft, weil sie nicht massiv über ein nationales Programm gepusht wird und anders als der Rüstungssektor kosteneffizient sein muss, um sich im internationalen Wettbewerb zu behaupten. Und sie verfügt über einen ungleich höheren internationalen Durchdringungsgrad. In keinem anderen Wirtschaftszweig ist die Lokalisierung so flächendeckend und so weit vorangeschritten wie in der Automobilindustrie. Und in keiner anderen Branche sieht man die Grenzen der totalen Lokalisierung so deutlich. Sind die OEM noch ansatzweise in der Lage ihren Local Content zu erhöhen, die Zulieferindustrie kann das nicht. Es wäre auch ein weltweit einmaliger Vorgang, die gesamte Supply Chain in einem Land zu konzentrieren. Hinzu kommt, dass die Übergangsregelungen der WTO auslaufen und das bisherige Anreiz-Modell grundsätzlich überarbeitet werden muss, um eine Produktion in Russland zu rechtfertigen. Das geht eigentlich nur mit einem kompletten Strategiewechsel. Kurz gesagt: Reformen müssen her, in der Automobilwirtschaft wie überall in der russischen Industrie.

Was wäre wenn?

Was wäre also, wenn Russland tatsächlich ernst machen würde mit Wirtschafts- und Sozialreformen und das – zweifelsohne vorhandene – Potential voll ausschöpfen würde? Was wäre, wenn man Lokalisierung als Konjunkturmotor und nicht als Teil einer zweifelhaften Autonomiebestrebung gestalten würde. Was wäre, wenn man sich von der Doktrin des „russischen Sonderwegs“ verabschiedete und wirklich Teil eines eurasischen Wirtschaftsraums würde? Und was wäre schließlich, wenn die ideologisch überfrachtete Auseinandersetzung mit dem „Westen“ wieder durch sachliche Argumentation und konstruktiven Dialog ersetzt würde? Vorausgesetzt natürlich, dass auch auf Seiten der Europäer und Amerikaner wieder mehr Wille zur Zusammenarbeit erkennbar wäre. Zu allererst bedarf es dazu rhetorischer Abrüstung.

Wachstum über dem internationalen Durchschnitt möglich

Was wäre also wenn? Die Auguren müssten sich nicht mehr mit der Ausdeutung von Nachkommastellen hinter einer eins beschäftigen, sondern Russland würde wieder mit drei, vier, fünf Prozent wachsen. Denn genau die ungewisse wirtschaftliche Entwicklung ist es, die den Unternehmen die meisten Sorgen bereitet und Investoren zögern lässt. Natürlich spielen auch Sanktionen und Protektionismus eine Rolle. Aber im Kern sind es Rubelkurs, schwacher Markt und unklare – auch gesetzliche – Perspektiven, die die Stimmung trüben, das hat die diesjährige Geschäftsklimaumfrage überdeutlich gezeigt.

Neue Ostpolitik als Chance

Hoffnung auf Besserung der Situation kommt aus einer recht unerwarteten Richtung. Der deutsche Außenminister, der manchem hierzulande als farblos erscheint, hat eine sehr präzise Vorstellung davon, wie wir im Osten Europas, und dazu zählt er explizit auch Russland, neues Vertrauen und neue Perspektiven schaffen. Im Spannungsfeld der Auseinandersetzungen um das Demokratieverständnis einiger osteuropäischer EU-Mitglieder, dem Krieg in der Ostukraine, einer reformmüde scheinenden Ukraine und der unverhohlenen Einmischung der USA in europäische Politik plädiert er für eine Positiv-Agenda. Deutschland und Frankreich sieht er als die Gestalter einer neuen Ostpolitik. Die probaten Mittel sind Dialog, Einbindung und Verständnis, bei klarer Artikulation, wo die Grenzen im Wort- und im übertragenen Sinn liegen. Russland soll wieder strategischer Partner werden und dazu ist Heiko Maas bereit, sehr viel Zeit aufzuwenden, um mit der russischen Seite einen Weg aus der Sackgasse zu finden. Teilhabe und Engagement sind die Schlüsselworte. Das gilt für den NATO-Russland-Rat, das Normandie-Format, den INF-Vertrag, die deutsch-russischen Regierungskonsultationen und auch für Nordstream II. „Ohne deutsche Beteiligung wird sich niemand mehr für einen Gastransit durch die Ukraine einsetzen“, so Maas. In dieser Kolumne haben Politiker jeglicher Couleur nicht immer den leichtesten Stand. Dieses Mal jedoch bin ich geneigt, dem Außenminister für seine Vorhaben Kraft und das notwendige Durchhaltevermögen zu wünschen. Die Deutschen und die Russen würden es ihm danken.

Titelbild
[toggle title=”Fotoquelle” open=”yes”]Titelbild: Amélie Losier