Nach der Rückeroberung Berg-Karabachs durch Aserbaidschan Ende September wird vor allem eines deutlich: Der realpolitische Einfluss Deutschlands und der EU in der Region schwindet – und lässt Raum für neue Akteure. Eine Einschätzung.
Von Urs Unkauf
Es dauerte nur rund einen Tag, dann erklärte die selbsternannte Republik Bergkarabach faktisch die Kapitulation: Mit der Durchführung der sogenannten „Antiterroroperation“ vom 19. auf den 20. September 2023 eroberte Aserbaidschan das zuvor über 30 Jahre armenisch besetzte Gebiet um die Stadt Khankendi (Stepanakert) und stellte seine territoriale Integrität im Sinne des Völkerrechts wieder her. Der Fall kann als erster Konflikt gesehen werden, der infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion ausgebrochen war und nun – insbesondere aus aserbaidschanischer Sicht – erfolgreich gelöst werden konnte. Und das, so findet der Autor, noch dazu auf der Grundlage der Stärke des internationalen Rechts, nicht nach dem Recht des Stärkeren.
Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew hat damit Geschichte geschrieben. Die folgenden Monate werden für die Rückeroberer massive Anstrengungen erfordern, um die Wiederaufbau- und Reintegrationsprozesse in den von den Armenischen Besatzern substanziell zerstörten Territorien voranzubringen. Aserbaidschan steht dem Engagement internationaler Partner hierbei offen gegenüber – eine Chance auch für die derzeit stark mit heimischen Problemen konfrontierte deutsche Wirtschaft.
Westliche Akteure verlieren an Einfluss
Neben der inneraserbaidschanischen Dimension, den Herausforderungen des Wiederaufbauprozesses, sind die regionalpolitischen Auswirkungen und geopolitischen Implikationen dieses neuen Status Quo im Südkaukasus nicht zu vernachlässigen. Erstmals seit den 1990er Jahren besteht die realistische Chance, einen stabilen Frieden in dieser Region zwischen Europa, Asien und dem Mittleren Osten zu schaffen – und dies in einer Zeit, in der neue sicherheitspolitische Krisen die internationale Politik massiv zu erschüttern drohen. Am 23. Oktober trafen sich die Außenminister Armeniens, Aserbaidschans, der Türkei, Russlands und Irans im sogenannten „3+3“-Format in Teheran. Georgien war ebenfalls geladen, nahm jedoch nicht teil, da Tbilissi eine Lösung der regionalen Angelegenheiten innerhalb der südkaukasischen Nationen präferiert.
Das Treffen in der iranischen Hauptstadt verdeutlicht die zunehmende Bedeutungslosigkeit westlicher Akteure bei der Lösung von Konflikten in diesem Teil der Welt, in welche sich die Nichtbeteiligten zu wesentlichen Teilen selbst manövriert haben. Während Frankreich traditionell einseitig Partei für Armenien ergriff und diese Haltung auch innerhalb der EU mit Vehemenz vertrat, positionierte sich Deutschland bislang in dieser Frage meist zurückhaltender. Leider haben sich deutsche Politiker in wichtigen Funktionen unlängst weniger konstruktiv im Sinne einer nachhaltigen Friedenslösung für die Region positioniert. In Umkehrung der völkerrechtlichen Tatsachen schrieb der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, Michael Roth (SPD), am 21. September 2023 auf dem Kurznachrichtendienst „X“ (vormals Twitter), Aserbaidschan habe „auf das Recht des Stärkeren, nicht auf die Stärke des Rechts gesetzt“.
Welches Recht er dabei der illegalen Okkupation aserbaidschanischer Territorien – im Widerspruch zu vier UN-Resolutionen und der Position seiner eigenen SPD-geführten Bundesregierung – zuspricht, bleibt unklar. Weiter schreibt Roth im selben Verlauf: „Auf dieser Grundlage können wir mit Aserbaidschan wirtschaftlich nicht enger kooperieren.“ Dass Aserbaidschan seit Jahrzehnten der wichtigste Handelspartner der Bundesrepublik im Südkaukasus sowie ein bedeutender Öl- und Gaslieferant für Deutschland und Europa insgesamt ist, scheint den ehemaligen Staatsminister unter Heiko Maas nicht zu interessieren. In Verkennung der neuen außenpolitischen Realitäten im Südkaukasus schlägt er „eine verstärkte EU-Mission für Sicherheit+Frieden, massive wirtschaftliche Unterstützung, Visaliberalisierung und vertiefte politische Kooperation [mit Armenien]“ vor. Auch EU-Ratspräsident Charles Michel brachte in jüngster Zeit wiederholt einseitige und unbegründete Anschuldigungen gegen Aserbaidschan vor, während eine unabhängige UN-Beobachtermission in Karabach zu dem Schluss kam, dass es keine Schäden an der zivilen Infrastruktur gebe und keine Gewalt gegen die armenisch-stämmigen Zivilisten verübt worden sei.
Globale Verkehrswege im Südkaukasus
Die einseitigen Stellungnahmen deutscher und europäischer Politiker in dieser Frage können als Reflex zur Kompensation des Bedeutungsverlustes gewertet werden, den die entsprechenden Akteure derzeit in der Region erfahren. Die französische Dominanz der europäischen Außenpolitik in dieser Frage hat daran ebenso ihren Anteil wie die wiederholt übergriffigen Einmischungsversuche in die inneren Angelegenheiten Aserbaidschans als souveränem Staat. Diese Faktoren haben den realpolitischen Einfluss Deutschlands und der EU zugunsten anderer geopolitischer Akteure in diesem Teil der Welt substanziell geschwächt. Währenddessen ist das Interesse Bakus an einer Intensivierung der Beziehungen zu Berlin und Brüssel ungebrochen, jedoch durch die Einsicht getrübt, dass man in schwierigen Zeiten seine Verbündeten besser andernorts sucht.
Aserbaidschan treibt seine Friedensbemühungen aktiv voran und hat zu keiner Zeit die territoriale Integrität seines Nachbarlandes verletzt. Von einem Friedensabkommen mit Aserbaidschan und dessen alliierter Nation Türkei würde die armenische Bevölkerung am meisten profitieren. Die geostrategische Bedeutung des Südkaukasus im Hinblick auf die globalen Verkehrswege hat Thomas Fasbender kürzlich in einem Beitrag für die „Berliner Zeitung“ fundiert dargelegt. Der weitere Weg des armenisch-aserbaidschanischen Friedensprozesses wird verstärkt in der Kaspisch-Eurasischen Region stattfinden. Länder wie Türkei, Israel, Saudi-Arabien und Pakistan treten als politische Akteure neben den klassischen Regionalmächten Russland und Iran zukünftig verstärkt auf. Es bleibt für die deutsche wie europäische auswärtige Politik zu hoffen, dass diese sich nach den im kommenden Jahr stattfindenden Wahlen zum Europäischen Parlament auf die Grundsätze pragmatischer Diplomatie zurückbesinnt, anstatt die Welt in antiquierter Manier belehren zu wollen, ohne jedoch realpolitische Resultate zu liefern.
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