Gemischtes Doppel #24: Tolstoj und die Juden
Liebe Leserinnen und Leser,
jetzt sind mal wieder Ihre Literatur- und Russischkenntnisse gefragt. Lew Nikolajewitsch Tolstoj kennen Sie bestimmt. Er schrieb einst Krieg und Frieden und war Russlands Moralapostel Nummer eins. Wenn Russen also jemanden bloßstellen wollen, dann sagen sie manchmal folgendes: На словах ты Лев Толстой, а на деле — хуй простой!
Das ist zwar unanständig, reimt sich aber prächtig und heißt so viel wie: Du redest wie Lew Tolstoj, bist aber nur ein gewöhnlicher Schwanz. Ironischerweise hat es nun einen echten Tolstoj erwischt. Genau genommen Pjotr Tolstoj, den Ururenkel des berühmten Schriftstellers.
Tolstoj junior ist eigentlich ein russlandweit bekannter Fernsehmoderator, Patriot und stellvertretender Parlamentsvorsitzender für die Kremlpartei Einiges Russland. Momentan stört ihn am meisten, dass in Russland viele Menschen gegen eine Übergabe der Sankt Petersburger Isaaks-Kathedrale in die Verwaltung der Orthodoxen Kirche protestieren.
Bislang ist das monumentale Bauwerk Museum und ein wichtiger Touristenmagnet der Stadt. Die Causa war vor allem ein Sankt Petersburger Lokalkonflikt, bis Tolstoj auf einer Pressekonferenz seine Keule rausholte. Für ihn sind die Protestler Nachkommen jener, die 1917 aus dem „Siedlungsgebiet (für Juden im Russischen Reich, Anm. d. Red) mit einem Revolver aufgetaucht sind und unsere Kirchen zerstört haben. Heute arbeiten sie in Redaktionen und Parlamenten und führen die Sache ihrer Vorväter weiter“.
Bitte was? Dürfen heutige Juden also nicht die Orthodoxe Kirche kritisieren, weil unter den Bolschewiken auch Juden waren?
Glücklicherweise blieb die Äußerung nicht unbemerkt, weder in den Medien noch auf Facebook, wo des Öfteren nun das oben genannte Tolstoj-Sprichwort zum Einsatz kam. Boruch Gorin, Sprecher der Föderation jüdischer Gemeinden in Russland, bezeichnete Tolstojs Einlassung als offenen Antisemitismus. Später schrieb Tolstoj auf Facebook, er sei überrascht ob der heftigen Reaktionen, denn alles sei natürlich gar nicht so gemeint gewesen.
Hier stimme ich Tolstoj zu, auch ich war überrascht. Insbesondere davon, dass jüdische Organisationen im Land sich nicht scheuen, einen einflussreichen Politiker der Kremlpartei anzugreifen. Denn einen Skandal aufgrund antisemitischer Äußerungen, das gab es in Russland lange nicht. Was natürlich nicht heißt, dass es keinen Antisemitismus gibt.
Nur zu gerne verweisen Patrioten auf die jüdische Herkunft einiger bekannter Liberaler und Oppositioneller im Land. Dennoch: Im November kam das unabhängige Lewada-Zentrum für Meinungsforschung zu dem Schluss, der Antisemitismus habe abgenommen und befinde sich in der „Schlafphase“.
Tatsächlich ist vom Antisemitismus der UdSSR, als meine Mutter nur bestimmte Fächer an ihrer Universität studieren durfte, wenig übrig. Schon in den 1990er Jahren kamen die meisten Juden nach Deutschland auf der Suche nach wirtschaftlichen Chancen – und nicht etwa, weil sie vor Pogromen flüchten mussten. Gleichzeitig sind Juden in der russischen Öffentlichkeit viel präsenter als in Deutschland.
In Russland sind Juden in Kunst und Kultur, Medien, Wirtschaft und auch in Putins engstem Oligarchenkreis reichlich vertreten. Synagogen in Großstädten müssen nicht (wie in Deutschland) wie ein Geldtransporter bewacht werden. Im Gegensatz zu manchen Städten in Ostdeutschland sind jüdische Einrichtungen hierzulande nicht gezwungen, ihre Aushängeschilder zu verstecken.
Dennoch müssen russische Juden über vieles hinwegsehen, was in Deutschland tabu wäre. Judenwitze sind weitestgehend salonfähig. Wahlweise werden Juden besondere Charaktereigenschaften zugesprochen, und seien es auch positive. Und hin und wieder kommt es eben zu Ausbrüchen wie jenem von Pjotr Tolstoj.
Zumal er zu den Tonangebern im Land gehört und Russland bald auch international vertreten wird: Tolstoj soll die Leitung der russischen Delegationen in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und im Europarat übernehmen. Es ist wichtig, dass das Thema diskutiert wird. Ururgroßvater Tolstoj würde sich jedenfalls im Grabe umdrehen, könnte er seinem Nachkommen heute zuhören.
Im Gemischten Doppel geben Inga Pylypchuk (Ukraine) und Maxim Kireev (Russland) im wöchentlichen Wechsel persönliche (Ein)-Blicke auf ihre Heimatländer.
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