Die belarussische Opposition als falscher Feind
Anders als vom Westen suggeriert, spielt Geopolitik für die meisten Demonstranten in Belarus keine Rolle – sie verbitten sich Vereinnahmungsversuche von allen Seiten. Unser Autor, der jahrelang in Weißrussland interkulturelle Trainings durchführte, mit einem Überblick über die jüngsten Ereignisse – und die, die kommen könnten.
Hier geht es zum ersten Teil.
„Weißt Du, was uns am Allermeisten stört?“ fragte mich vor ein paar Tagen eine Freundin aus Minsk beim Skypegespräch. „Es ist die unerträglich unhöfliche, primitive Art, wie Lukaschenko mit uns umgeht! Er hat keinerlei Respekt, er duzt uns sogar!!“ Genau hier liegt wohl eine der tiefsten Antriebskräfte der Hundertausenden Weißrussen, die seit Wochen kontinuierlich und friedlich auf die Straße gehen. Sie haben es einfach satt, von ihrem angeblich mit 80 Prozent der Stimmen zum sechsten Mal zum Präsidenten gewählten ‚Landesvater‘ als „Ratten“ bezeichnet – und nicht selten auch so behandelt – zu werden.
Schon allein die respektvolle Ansprache durch einen Kandidaten wie den ehemaligen Direktor der (zum russischen Gazpromkonzern gehörenden) Belgazprombank, Viktor Babariko – er sitzt seit dem 18. Juni im Gefängnis – war Balsam in den Ohren der Bevölkerung. Die Menschen in Belarus sind es aber auch leid, wie unmündige Kinder eines zerstrittenen Elternpaars – Russland und der Westen – behandelt zu werden. Sie wollen kein geopolitisches Gezerre. Die traditionell guten Beziehungen zu Russland und zu den Russen stehen für die Weißrussen eh nicht zur Disposition. Das Land ist in dieser Frage keineswegs polarisiert wie die Bevölkerung in der Ukraine.
Kein „Belo-Maidan“
Deswegen führen auch alle vorschnellen Vergleiche mit dem Kiewer „Euro-Maidan“ in die Irre. Überhaupt sollte man mit dem Wort „Maidan“ etwas vorsichtiger umgehen. Nicht jeder Massenprotest im postsowjetischen Raum ist ein „Maidan“! Auf dem zentralen Platz in Kiew radikalisierten sich die anfangs berechtigten Proteste gegen die korrupte Janukowitsch-Clique schnell und wuchsen sich unter dem Einfluss bewaffneter ultranationalistischer und neofaschistischer Kräfte – mit offener wie clandestiner westlicher Unterstützung – zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen aus, bis zum Schluss von allen Seiten scharf geschossen wurde. Es ist vermutlich genau dieses Szenario, das Präsident Putin vorgeschwebt haben mag, als er Ende August die Bedingungen eines möglichen Einsatzes russischer Sicherheitskräfte in Belarus präzisierte: „Wenn extremistische Elemente unter dem Deckmantel politischer Losungen beginnen sollten, Autos, Häuser, Banken in Brand zu setzen und zu versuchen, administrative Gebäude zu besetzen.“
Für all dies fehlen im traditionell russlandfreundlichen Belarus jedoch sämtliche Voraussetzungen: Anders als in der Ukraine war und ist der Nationalismus in Weißrussland nur sehr schwach ausgeprägt. Rechtsextreme Gruppierungen wie in der Westukraine haben hier keine Tradition. In Weißrussland gab es keinen ‚Bandera‘, keine ‚Organisation weißrussischer Nationalisten‘ (wie in der Ukraine die OUN) und erst recht keine mit den faschistischen Besatzern zusammenarbeitende ‚Weißrussische Aufstandsarmee‘ wie die ukrainische UPA. Statt dessen wurde dem Stadthalter von Minsk, dem „Generalkommissar für den Generalbezirk Weißruthenien“, Wilhelm Kube, am 22. September 1943 von der als Dienstmädchen eingeschleusten Partisanin Jelena Masanik eine Bombe unters Bett gelegt, die ihre Wirkung nicht verfehlte. In Belarus sind es die Partisanen in den Wäldern, nicht die Nazikollaborateure, die das kollektive Andenken an den Großen Vaterländischen Krieg bestimmen. Ebenfalls anders als in der Ukraine und im Baltikum gab es in Weißrussland auch keine tatkräftige Mithilfe der lokalen Bevölkerung bei der Ermordung der Juden. Antijüdische Pogrome, wie sie unmittelbar nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Lemberg, Tarnopol und zahlreichen anderen Orten Ostgaliziens oder in Litauen stattfanden – der „Schlächter von Kaunas“ – gab es hier nicht.
Es gibt auch kein Sprachenproblem: Die belarussische Sprache spielt in Weißrussland ungefähr die gleiche Rolle wie Plattdütsch in Niedersachsen. Die Mehrheit der Weißrussen beherrscht diese Sprache überhaupt nicht. In den allermeisten belarussischen Familien wird Russisch gesprochen. Und bezeichnenderweise – man schaue auf den entsprechenden Fotos nach! – sind auch die Slogans auf den Transparenten der Demonstranten auf Russisch verfasst. Bis auf eine einzige Ausnahme: Жыве Беларусь! (Es lebe Belarus!) Der Wunsch in einem eigenen Staat leben zu wollen, ist jedoch nicht mit Russland- oder gar Russenfeindlichkeit gleichzusetzen.
Kurz: Es ist vollkommen unsinnig, genauer: demagogisch, wenn einschlägige westliche Politiker und Medien die Opposition gegen Lukaschenko zu einer Gegnerschaft gegen Russland umdeklarieren wollen. Die weißrussische Opposition – und darunter verstehe ich die Menschen, die seit dem 9. August zu Hunderttausenden unter nicht geringem Risiko gegen ihren autoritären Machthaber gewaltlos demonstrieren – ist, so gesehen, Russlands ‚falscher Feind‘!
Die Forderungen der Opposition
Die Menschen wünschen sich in ihrer überwältigenden Mehrheit ein Leben frei von Angst und Despotie: Ein Leben ohne Angst vor einer – im allerschlimmsten Falle – Rückkehr der berüchtigten Воронки (der schwarzen Verhaftungswagen wie im Jahre 1937), ein Leben, ohne Angst, seine Meinung frei zu äußern, ein Leben jenseits jeglicher paternalistischer Bevormundung in einem unabhängigen Land, das eine Brücke zwischen West und Ost sein soll.
Einig sind sich gegenwärtig alle Demonstranten in drei konkreten Forderungen: Da ist zu allererst die Ablehnung Lukaschenkos. Der mittlerweile 66-jährige soll nach 26 Jahren autoritärer Herrschaft endlich seinen Stuhl räumen und einem demokratisch gewählten Nachfolger Platz machen. Zweitens sollen alle politischen Gefangenen entlassen und, drittens, die Verantwortlichen für die staatlichen Gewaltexzesse der letzten Wochen zur Rechenschaft gezogen werden. Weitergehende Konzepte müssen in einem Diskurs erarbeitet werden, für den es erst einmal die Voraussetzungen zu schaffen gilt.
Anders als von westlichen Medien mit bestimmten „Gallionsfiguren“ suggeriert, verfügt die weißrussische Opposition bislang noch über keine überzeugende, die Bewegung repräsentierende Gegenfigur zu Lukaschenko. Die aussichtsreichsten Bewerber, die dem belarussischen Präsidenten hätten gefährlich werden können, wurden von ihm bereits vor der Wahl aus dem Verkehr gezogen. Svetlana Tichanowskaja, eher eine Verlegenheitskandidatin ohne großes politisches Profil, verlor viel Sympathien, als sie zwei Tage nach der Wahl – vermutlich auf Druck der Behörden – das Land verließ, zumal nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie seit ihrer Ankunft in Vilnius unter dem Einfluss westlicher Pressure-Groups steht. Bernhard Henri Lévy, der polyglotte Revolutionstourist, erwies ihr jedenfalls einen Bärendienst, indem er sie – sachlich und poetisch falsch – zur „Muse der Revolution“ hochzustilisieren suchte. (Wie der Belarus-Experte der Moskauer Diplomatenschule MGIMO, Kirill Koktysch, sarkastisch anmerkte, ist noch ungewiss, wer das gemeinsame Foto nötiger hatte: Tichanowskaja oder Lévy …) Der von Tichanowskaja angeregte und von den Behörden sofort für illegal erklärte Koordinierungsrat wurde kurz nach seiner Konstituierung von der Staatsmacht de facto zerschlagen, seine Mitglieder – bis auf die hochangesehene Nobelpreisträgerin Svetlana Alexijewitsch – verhaftet oder ins Ausland vertrieben. Die meiste Reputation unter den Demonstranten genießt gegenwärtig die ehemalige Mitarbeiterin des inhaftierten Viktor Babariko, Marija Kolesnikowa, die nach einem missglückten Ausbürgerungsversuch mittlerweile ebenfalls im Gefängnis sitzt.
Es wird sich zeigen, wer in Zukunft das die meisten Demonstranten repräsentierende Gesicht und damit die Alternative zu Lukaschenko sein wird.
Erste Maßnahmen zur Deeskalation
Wie aber soll es nun weitergehen in diesem kleinen Land zwischen EU und Russland? Welche kurzfristigen Wege zur Entspannung der aktuell zugespitzten Lage und welche Perspektiven einer grundlegenden Lösung könnte es geben?
Das Allerwichtigste ist jetzt, dass die externen Mächte, sprich: der Westen und Russland, jegliche eskalierende Einmischung, jede Form der geopolitischen Instrumentalisierung unterlassen und sämtliche Akteure – inklusive der Opposition, versteht sich – keinerlei Gewalt ausüben.
Die USA haben sich aller Formen direkter oder verdeckter Einflussnahme zu enthalten und die EU sollte ihre traurige – und komplett gescheiterte – Sanktionspolitik nicht auch noch auf Weißrussland ausdehnen. Vor allem aber sollte sie nicht Gelder für die belarussische Zivilgesellschaft locker machen, was als vergiftetes Geschenk unter den gegebenen Bedingungen nur auf eine Form geopolitischer Einmischung hinauslaufen kann. Die Menschen in Belarus sind in der Lage, sich auch ohne externe Missionare selbst zu helfen! Sollte es die EU aber wirklich ernst meinen und die Menschen in Belarus tatsächlich unterstützen wollen, dann gäbe es eine erheblich glaubwürdigere – und dazu auch noch preiswertere – Option, die sich obendrein bei gutem Willen sofort realisieren ließe: Visafreiheit für alle Weißrussen! (Und für die Menschen in Russland am Besten gleich mit!) Es ist bezeichnend, dass diese Option bislang nirgends – weder in den Medien noch von den Politikern – erwogen wurde.
Und Russland sollte auf die ihm wohlbekannte friedliche und versöhnliche belarussische Mentalität vertrauen, die eine Freundin aus Neswish mir gegenüber folgendermaßen zum Ausdruck brachte: „Wir fühlen uns einig mit Russland. Wir fühlen uns wie ein Volk. Und Nationalismus ist das letzte, was man uns nachsagen kann!” Ähnlich äußerte sich das Mitglied des Koordinierungsrates, der ehemalige belarussische Kulturminister und Ex-Diplomat Pavel Latuschko: „Der letzte Politiker in Belarus wird derjenige sein, der eine Mauer zwischen uns und Russland bauen wird. Die Zusammenarbeit mit Russland – Wirtschaft und Handel entspricht den pragmatischen Interessen von Belarus, ebenso die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union. Wir sind daran interessiert, eine starke Brücke zu sein, die Russland und Westeuropa verbindet.“
Sollte Lukaschenko – seine jüngsten Maßnahmen weisen leider in die gegenteilige Richtung – auch selbst zu einer Entspannung beitragen und nicht mehr auf repressive Maßnahmen setzen wollen, so hätte er als erstes alle politischen Gefangenen freizulassen und zweitens einer Wahlwiederholung unter OSZE-Aufsicht zuzustimmen, bei der selbstverständlich sämtliche Gegenkandidat/inn/en zugelassen werden müssen, die beim letzten Mal unter fadenscheinigen Vorwänden bereits im Vorfeld inhaftiert oder zur Wahl nicht zugelassen wurden. Dieses Wahlergebnis hätten dann alle internen und externen Akteure in Zivilgesellschaft und Politik zu akzeptieren. Anschließend sollte ein kontinuierlicher Dialog zwischen Vertretern der Regierung und der Zivilgesellschaft zur Aushandlung der Modalitäten einer Demokratisierung der Gesellschaft eingerichtet werden.
Dies könnten erste Maßnahmen einer friedlichen Beilegung der gegenwärtigen Krise sein.
Für eine „Pariser Charta 2.0“!
Eines gilt es dabei allerdings zu bedenken: Die Ereignisse in Weißrussland können nicht losgelöst von der aktuellen Weltlage betrachtet werden, die nicht zuletzt durch eine neue, in erster Linie durch die Vereinigten Staaten entfachte geopolitische Rivalität zwischen dem Westen (USA und NATO) und Russland gekennzeichnet ist. Dieses erneute Gerangel um Macht- und Einflußsphären verschärft und überlagert überall im postsowjetischen Raum die internen Konflikte. Wirklich, von der Wurzel her, gelöst werden können die Spannungen in und um Belarus – wie auch in der Ukraine, Moldawien und Georgien – erst dann, wenn der erneute geopolitische Machtkampf zwischen dem Westen und Russland überwunden ist. Und dabei könnte ein Blick zurück nach vorne hilfreich sein.
Vor fast 30 Jahren, Ende November 1990 verabschiedeten alle europäischen Staaten, inclusive der Sowjetunion, den USA und Kanada die „Charta von Paris“, in der die NATO und der damals noch existierende Warschauer Pakt den Kalten Krieg für beendet erklärten und einander feierlich die Hand zur Zusammenarbeit reichten. Unter anderem einigten sich alle auf folgendes Prinzip: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.“ Die Sicherheit eines Staates kann demnach nie auf Kosten der Sicherheit Anderer erlangt werden. Diese Maxime bedeutet nichts anderes als den Bruch mit jeglicher Politik des Nullsummenspiels, bei dem der Gewinn der einen Seite, zwingend den Verlust der anderen bedeutet.
Dieses Prinzip gilt es zu reaktivieren und endlich verbindlich umzusetzen. Anders formuliert: Die Zeit ist überreif für eine „Pariser Charta 2.0“! Der 30. Jahrestag, der 21. November 2020, wäre ein guter Anlass, dies wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen. Die Friedensinitiativen in allen europäischen Ländern hätten hier den idealen Kompass für ein wichtiges Etappenziel.
Es geht auch friedlich
Kommen wir zurück nach Belarus. Die weißrussische Opposition will in ihrer überwältigen Mehrheit nichts anderes als einen unabhängigen Staat, frei von Diktatur, mit guten Beziehungen zu Russland und zum Westen. Sie sollte daher jeglichen externen Hilfs-, sprich: Vereinnahmungsangeboten – sei es materiell, organisatorisch oder ideell – widerstehen. „Bunte Revolutionen“ liefen bislang nur auf den Versuch einer Ausdehnung der westlichen Einflußsphäre hinaus.
Dass Russland jedenfalls sehr wohl bereit sein kann, demokratische Umbrüche an seiner Peripherie zu tolerieren – sogar dann, wenn eigene Truppen im betreffenden Land stationiert sind –, solange Fragen der Geopolitik nicht tangiert werden, hat vor zweieinhalb Jahren die Revolution in Armenien gezeigt. Die von weitesten Kreisen der Bevölkerung getragene armenische Revolution – von Außenamtsprecherin Maria Sacharowa ausdrücklich gewürdigt – hatte sich gegen eine durch und durch korrupte Politikerkaste gerichtet, die zusammen mit einer Handvoll Oligarchen und dem Beamtenapparat jahrzehntelang nahezu das gesamte Volk schamlos ausgeplündert, jegliche Reformen im Keim erstickt und damit einen Braindrain von mehr als einer Million Menschen zu verantworten hatte. Geopolitik spielte für die gewaltlosen Revolutionäre keine Rolle: Nicht mit Russland hat Armenien außenpolitische Probleme, sondern mit seinem zunehmend unberechenbarer werdenden NATO-Nachbarn im Westen und dessen engem Verbündeten im Osten.
Und voilà: Russland akzeptierte den Umbruch, der sich ohne Gewalt, demokratisch und im Einklang mit der Verfassung vollzog und abeitet heute gut mit dem neuen Ministerpräsidenten Paschinyan zusammen!
Eigentlich ist also alles sehr einfach:
Wer in Armenien regiert, bestimmen die Armenier.
Wer in Russland regiert, bestimmen die Russen.
Und wer in Belarus regiert, bestimmen die Belarussen.
Und niemand sonst!
Dieser Essay erschien zuerst bei RT Deutsch. Der Autor führte seit den Nuller Jahren in Weißrussland zahlreiche interkulturelle Trainings mit belarussischen Germanistikdozentinnen und Deutschlehrerinnen vor allem für das Goethe-Institut durch.
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