Vierzig Jahre Bonner Friedensdemonstration
Vor vierzig Jahren demonstrierten 300.000 Menschen im Bonner Hofgarten gegen den Nachrüstungsbeschluss der NATO und für ein atomwaffenfreies Europa. Warum waren damals so viele Menschen für den Frieden aktiv und wie ist das heute?
Die Bundesrepublik, Mitte Oktober. Hunderttausende von Bürgern kommen an einem Samstag aus allen Teilen des Landes in die Hauptstadt, um für Frieden, Abrüstung und ein atomwaffenfreies Europa zu demonstrieren. Und es ist ein breites buntes Bündnis, wie es das Land noch nicht gesehen hat: Kommunisten neben Christen, Gewerkschafter neben Umweltschützern, Kriegsdienstverweigerer und Reservisten, Esotheriker und Antifaschisten, Friedensinitiativen der verschiedensten Berufsgruppen bis hin zu Soldaten, sehr viele junge Menschen zusammen mit einigen Älteren, die eine Initiative „Kriegsgeneration gegen Kriegsrüstung“ ins Leben gerufen haben. Schon im Vorfeld wurde von vielen Leitmedien massiv Stimmung gemacht. Der Vorwurf, die Demonstranten seien naiv, ihre Bewegung sei eine „Angstbewegung“ – und „Angst“, so heißt es postwendend, „ist ein schlechter Ratgeber!“ – war noch der harmloseste. Schwerer wog schon die Diffamierung, die Friedensbewegung sei „von Moskau unterwandert und gesteuert“, ihre Protagonisten bestenfalls „nützliche Idioten“, um „den Westen zu spalten“. Trotzdem lassen sich 300.000 Menschen nicht davon abschrecken, an der Demonstration teilzunehmen.
Auf der zentralen Kundgebung sprechen weltbekannte Schriftsteller, Wissenschaftler, Bürgerrechtler, Theologen aber auch einige prominente Dissidenten der führenden Regierungspartei und ein pensionierter hoher Bundeswehrgeneral. Allen Unkenrufen zum Trotz bleibt die Demonstration friedlich, ja, trotz des ernsten Themas und der großen Besorgnis, die die Menschen auf die Straßen getrieben hat, herrscht eine entspannte Atmosphäre. Einige Transparente und Slogans beweisen sogar eine Menge Witz und Esprit.
Zukunftsmusik? – Nein, tiefste Vergangenheit!
Die Rede war, Sie ahnen es bereits dunkel, von der Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten vom 10. Oktober 1981, die mittlerweile genau vierzig Jahre zurückliegt. Vergegenwärtigen wir uns nochmal den damaligen historischen Kontext, um von dort aus einen Blick auf die Gegenwart zu werfen!
„Was ich nur weiß, macht mich nicht heiß“
Die Welt zu Beginn der Achtziger Jahre war eine Welt, die bis in die letzten Winkel von einer hochgefährlichen bipolaren Systemrivalität bestimmt war. Über drei Jahrzehnte bereits standen sich damals die Repräsentanten zweier antagonistischer Gesellschaftssysteme, die bis an die Zähne bewaffneten Militärbündnisse NATO und Warschauer Pakt, feindlich gegenüber. Der tiefe, nahezu unüberbrückbare Riss, der durch die Welt ging, zog sich mitten durch Europa und dort durch das Land im Zentrum, Deutschland, und hier nochmal am augenfälligsten durch die ehemalige Hauptstadt des ‚Tausendjährigen Reiches‘, Berlin. Zu beiden Seiten von Mauer, Stacheldraht, Minenfeldern und Selbstschussanlagen waren hunderttausende Soldaten der beiden Supermächte und ihrer Verbündeten stationiert, jederzeit bereit, den kalten Krieg in einen heißen zu verwandeln, der angesichts der weltweit angehäuften Massenvernichtungsmittel mit Sicherheit der letzte gewesen wäre.
So unglaubhaft es aus heutiger Perspektive aussehen mag, aber an dieses Leben auf dem Pulverfass mit seinen konjunkturellen Zyklen von temporärer Entspannung und Zuspitzung hatten sich die Menschen zu beiden Seiten des Eisernen Vorhanges längst gewöhnt. Nicht, dass sie es nicht gewusst hätten, in welcher finalen Gefahr sie alle schwebten – Worte wie „Rüstungswahnsinn“ waren sogar in aller Munde –, aber sie wussten es eben nur! Das abstrakte Wissen von der Gefahr allerdings blieb, da mit keinerlei Gefühlen verbunden, in unmittelbarer Nachbarschaft des Nicht-Wissens, sprich: es löste nicht die geringsten Reaktionen aus. Im Gegenteil, das Reden von der Gefahr wurde von Tag zu Tag langweiliger. Ein bekannter Philosoph prägte damals den Satz „Was ich nur weiß, macht mich nicht heiß.“
Genau das begann sich nun Anfang der Achtziger Jahre zu verändern und die große Bonner Friedensdemonstration vom Oktober 1981 war der erste sichtbare Ausdruck der Überwindung der kollektiven Indolenz. – Was war geschehen?
Die ‚invertierte Kuba-Krise‘
In den Siebziger Jahren hatte die Sowjetunion auf ihrem Territorium hunderte atomar bestückter Mittelstreckenraketen, im NATO-Jargon: SS 20, stationiert, die auf Westeuropa zielten. Der deutsche Kanzler Helmut Schmidt, der eine ‚strategische Abkoppelung‘ der USA befürchtete, sprich: Zweifel daran hegte, dass die Vereinigsten Staaten im Ernstfalle wirklich bereit wären, sich im Rahmen der Bündnissolidarität in einen Krieg in Europa hineinziehen zu lassen, warnte im Herbst 1977 in einer Rede vor dem Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS) vor einer Erpressbarkeit Europas infolge der sogenannten ‚Raketenlücke‘ im Mittelstreckenbereich und löste damit eine Debatte aus, die am 12. Dezember 1979 zum sogenannten NATO-Doppelbeschluss führte: Die NATO drohte, zum Ausgleich für die SS 20 Ende 1983 108 atomar bestückte Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II und 464 bodengestützte, ebenfalls atomar bestückte, Marschflugkörper (Tomahawk Cruise Missiles) in Westeuropa zu stationieren, falls die Sowjetunion sich nicht verpflichte, bis dahin ihre SS 20-Raketen vollständig zu verschrotten. Parallel dazu bot das westliche Militärbündnis der Sowjetunion Verhandlungen über die völlige Beseitigung aller Mittelstreckenraketen in Europa an, wobei es allerdings nicht bereit war, die französischen und britischen Atomwaffen miteinzubeziehen. – Soweit die damalige Argumentation der NATO und führender westlicher Politiker.
In weiten Kreisen der westeuropäischen Öffentlichkeit wertete man diesen Beschluss allerdings völlig anders: Im Falle einer Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, so fürchtete man, würde sich die sicherheitspolitische Lage Westeuropas dramatisch verschlechtern, da es sich dann um eine ‚Kubakrise mit umgekehrten Vorzeichen‘ handele. Wie die Sowjetunion 1962 in Kuba, würden im Falle einer Stationierung nun die USA vom Boden ihrer Verbündeten aus die UdSSR unmittelbar vor deren Haustür bedrohen, da die Pershing II-Raketen in der Lage seien, innerhalb von acht Minuten alle strategischen Ziele im Westen der Sowjetunion zu erreichen. Gemäß der Abschreckungslogik – der Androhung wechselseitiger Vernichtung – würde dies die Sowjetunion zwingen, ihrerseits atomare Kurzstreckenraketen in den vorgelagerten Staaten des Warschauer Paktes zu stationieren, die auf die amerikanischen Mittelstreckenraketen in Westeuropa zielten, was im Krisenfalle einen sowjetischen Präventivschlag wahrscheinlich und angesichts extrem verkürzter Vorwarnzeiten von vier Minuten einen Computerirrtum unkorrigierbar mache. (Der Spruch „Rampen für Raketen sind Untergangsmagneten“ machte die Runde.) Mit anderen Worten: Der Logik dieser wechselseitigen Hochrüstung von Atomraketen mittlerer und kürzerer Reichweite wohne ein höchstgefährlicher Selbstzündungsmechanismus inne, der einen Atomkrieg in Europa immer wahrscheinlicher mache, in dessen Folge auf dem Kontinent, namentlich in beiden deutschen Staaten, kein Stein mehr auf dem anderen bliebe.
Dass parallel dazu in den USA in offiziellen Kreisen genau solche Szenarien kursierten – dort auch noch mit dem Tenor, ein Atomkrieg könne auf Europa begrenzt, gar ‚gewonnen‘ werden –, einige amerikanische Reisebüros sogar bereits mit dem Slogan „Besuchen Sie Europa, solange es noch steht!“ warben und die Sowjetunion schließlich Ende 1979 in Afghanistan einmarschierte, löste in vielen Menschen Europas einen langsamen, aber stetigen Bewusstwerdungsprozess aus, der ein paar Jahre später auch handlungsrelevant wurde.
Die größte Atomwaffendichte der Welt
Im Februar 1981 veröffentlichte Der Stern – und er ging dabei großes Risiko ein – unter dem Titel „Die größte Atomwaffendichte der Welt“ eine Karte der (damaligen) Bundesrepublik Deutschland, auf der akribisch sämtliche Atomwaffenstandorte, samt Trägersysteme verzeichnet waren. Es war für viele Bundesbürger ein heftiger, aber heilsamer Schock.
Denn nun waren Worte wie „atomare Bedrohung“ oder „Hiroshima“ keine völlig abstrakten Begriffe mehr – jetzt konnte jeder, der es wollte, recherchieren, wieviele potentielle „Hiroshimas“ sich seit langem schon in seiner unmittelbaren Nachbarschaft befanden und welche Einsatzszenarien für den berüchtigten „Ernstfall“ ihnen zugedacht waren. Wer den Mut hatte, eins und eins zusammenzuzählen – und es wurden immer mehr –, dem kippte die Kinnlade runter: Allein in der (alten) Bundesrepublik befanden sich bereits 1981 (also vor der geplanten Nachrüstung) mindestens 6.000 Atomsprengköpfe, die meisten von der mehrfachen Sprengkraft der Hiroshimabombe, die überwiegende Mehrzahl von ihnen wäre im „Ernstfall“ den Westdeutschen zur deren „Verteidigung“ selbst auf den Kopf gefallen – kurz: die offizielle Verteidigungsstrategie der NATO hätte unser Land zu Tode verteidigt!
Diese Einsicht ließ damals immer weniger Menschen mehr ruhig schlafen, der Schrecken wurde langsam produktiv: Zwei Jahre später gab es in jedem westdeutschen Kuhkaff eine Friedensinitiative von ganz normalen Bürgern, die sich bestens auskannten, was die Wirkung von Atomwaffen, die „Mutual Assured Destruction“ – die wechselseitig garantierte Vernichtung (sinnigerweise MAD abgekürzt) –, die „AirLand Battle-Strategy“ der NATO, den „nuklearen Winter“, aber auch die in der unmittelbaren Nachbarschaft befindlichen Militäranlagen betraf. Und die, nicht zuletzt im Interesse des eigenen Überlebens, bereit waren, gegen diesen Wahnsinn etwas zu tun.
Und heute?
Von einem solch qualifizierten Problembewusstsein, von einer solch weitverbreiteten Handlungsbereitschaft, die sogar Wirkung zeitigte – Michail Gorbatschow 2017: „Ich erinnere mich gut an die lautstarke Stimme der Friedensbewegung gegen Krieg und Atomwaffen in den 1980er-Jahren. Diese Stimme wurde gehört!“ –, kann man heute nur träumen!
Denn es gab zwar ein vorläufiges und völlig unerwartetes „Happy End“ – die Welt hat grandioses Glück gehabt, dass im Frühjahr 1985 in der Sowjetunion eine Administration an die Macht kam, die den festen Willen hatte, diese brandgefährlich zugespitzte Situation zu beseitigen und dabei auch den Mut zu einer „kopernikanischen Wende in der Abrüstungspolitik“ aufbrachte, nämlich in qualitativen, statt in quantitativen Kategorien zu denken und zu handeln –, aber diese Zeiten sind leider vorbei!
Der im Dezember 1987 unterzeichnete INF-Vertrag, mit dem Michail Gorbatschow und Ronald Reagan erstmals die Verschrottung einer gesamten Waffenkategorie, die der landgestützten Flugkörper einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern, erreichten, ist vor zwei Jahren sanft entschlafen – ohne dass sich jemand in West und Ost groß darüber aufgeregt hätte. Wesentliche Verträge der globalen Sicherheitsstruktur wie der ABM-Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen, der A-KSE-Vertrag über die Reduzierung konventioneller Waffensysteme und Streitkräfte in Europa und der Open Skies-Vertrag, der zur Vertrauensbildung den Vertragsparteien wechselseitige kontrollierte Überflugrechte einräumt, sind – alle auf Betreiben des Westens – entweder Makulatur oder bis zur Unkenntlichkeit entkernt, Atomwaffen werden allseitig ‚modernisiert‘, selbst ihr Ersteinsatz stellt mittlerweile in den Militärstrategien der USA wie Russlands ausdrücklich eine Option dar – mit einem Wort: Arbeit für eine neue Friedensbewegung gäbe es mehr als genug.
Dass Fridays for Future auf dem rüstungspolitischen Auge blind sind, ist längst eine Binse. Aber wo sind eigentlich die Aktivisten von damals? Sie können doch noch nicht alle tot oder pflegebedürftig sein!
Oder meinen sie etwa, sie hätten mit ihrem damaligen Engagement ihr friedenspolitisches Soll für den Rest ihres Lebens abgeleistet?
Dieser Text erschien zuerst bei RT Deutsch. Ostexperte.de bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Debattenbeiträge und Kommentare müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.