Dramatische Zahlen: Russlands zweiter Corona-Lockdown

Russland kämpft gegen steigende Infektionszahlen

In der nächsten Woche haben viele Russen eine Woche außerplanmäßig frei. Der Grund ist der dramatische Verlauf der Covid 19-Pandemie im Land, den die Behörden versuchen einzudämmen: Eine Million Russen gelten aktuell als infiziert, 7,1 Millionen wurden seit Pandemiebeginn registriert – von einer Herdenimmunität ist das Land dennoch weit entfernt.

Rekordzahlen bei den täglichen Todesopfern

Welchen Unterschied es ausmacht, ob die Mehrheit der Bevölkerung gegen das Coronavirus geimpft ist, lässt sich an den aktuellen Zahlen sehr gut aufzeigen: Bewegt sich die Zahl der Neuinfektionen in Russland aktuell rund um den zwei- bis dreifachen Wert von Deutschland, ist die offizielle Anzahl der täglichen Todesopfer mehr als zehnmal so hoch und erreichte erst am 23. Oktober mit 1.075 einen absoluten Rekordwert. Und all das, obwohl für die Regionen außerhalb der Metropolen niemand von einer wirklich vollständigen Erfassung der Corona-Opfer ausgeht.

Durchstreift man aktuell die örtliche russische Presse, ist überall von neuen Rekordzahlen oder massiven Infektionsanstiegen in der Pandemie die Rede: Kuban, Tomsk, Jekaterinburg, Nischni Nowgorod – in Russisch Fernost ebenso wie im Kaukasus. Und überall sind die beherrschenden Themen neben den Infektionszahlen die Impfquote und der neue Lockdown.

Behörden erreichen langsames Ansteigen der Impfbereitschaft

Den russischen Behörden kann man beim Impfthema keine Vorwürfe machen. Sie tun alles, um die Impfquote zu steigern – für zahlreiche Berufe ist eine in Deutschland ebenfalls momentan diskutierte Impfpflicht schon lange Realität. In den regierungsnahen Medien wird – außer im deutschsprachigen Programm von RT – umfangreich für die Vakzine geworben. Doch die Zahl neuer Impfungen steigt zu langsam und regional sehr unterschiedlich. Sind in Zentralrussland, wie in Moskau oder Belgorod, bald die Hälfte der Leute geimpft, kommt das landesweite Schlusslicht Dagestan im Kaukasus gerade auf 15 % Impfquote.

Allgemein kann man sagen, dass sowohl die Impfbereitschaft als auch die Erfassung und Bekämpfung der Seuche in größeren Städten größer und ernsthafter ist, als auf dem Land – in der „echten“ russischen Provinz weit weg von der nächsten Großstadt. Westliche Beobachter vergessen dabei oft, dass es in Russland auch abseits von Moskau und Sankt Petersburg Metropolregionen gibt, etwa Nowosibirsk, Samara oder Jekaterinburg. Hier sind auch die negativen Erfahrungen mit regionalen Hotspots seit Beginn der Pandemie zahlreich und die Sensibilität größer – die Impfbereitschaft steigt trotz der spezifisch russischen Widerstände.

Starke regionale Unterschiede bei der Zuverlässigkeit von Zahlen

Auf dem Land dagegen gibt es immer noch viele Gegenden, wo auch bei Symptomen kaum getestet wird und viele Coronatote aufgrund leichtfertiger Falschdiagnosen nicht in der Statistik erscheinen. Geimpft ist hier kaum jemand und merkwürdige Geschichten über die Vakzine verbreiten sich durch Flüsterpropaganda. So sind die offiziellen Infektionszahlen im Bezug auf die tatsächliche Ausbreitung der Seuche oft eher ein Indiz als eine Erfassung.

Die meisten schwer COVID-Erkrankten sind weiterhin ältere Leute, doch die Anzahl der Jüngeren nimmt laut der Onlinezeitung Lenta zu. Die verlässlichsten Zahlen existieren in der russischen Hauptstadt. Mitte Oktober gab es in Moskau einen radikalen Anstieg mit einer Vervierfachung der Inzidenz und einer Verdreifachung der Krankenhauseinweisungen. Die Folgen waren neben der arbeitsfreien Woche eine Schließung der Kinos, Zirkusse und die Absetzung großer Sportevents. Doch das sind Maßnahmen, die nicht schärfer sind als in anderen Städten.

Etwa in der zweitgrößten Metropole Sankt Petersburg. Auch nach dem Zwangsurlaub soll dort in den staatlichen Bildungseinrichtungen mindestens 70 % im Homeoffice gearbeitet werden.  Kinos, Büchereien, Fitnesscenter, Schwimmbäder und andere Freizeiteinrichtungen bleiben konsequent geschlossen, alle Sport- und Kulturveranstaltungen ausgesetzt. Die Newa-Metropole hatte auch einen handfesten Impfskandal. Fünf Mitarbeiter einer Poliklinik wurden verhaftet, da sie gefälschte Impfzertifikate gegen die Zahlung von Bestechungsgeldern ausgegeben hatten, teilten die regionalen Strafverfolgungsbehörden mit.

Wirtschaftsprogramm und 2G-Regel in Planung

Kunden waren hier radikale Impfgegner, die eine für sie bestehende Impfpflicht umgehen wollten. Von anderen, ähnlich eingestellten Impfverweigerern erzählt die russischsprachige lettische Onlinezeitung Medusa. Sie stecken sich absichtlich mit Covid an, um danach zum Kreis der „Genesenen“ zu gehören, sogar von „Corona-Partys“ ist zumindest gerüchteweise die Rede. Das kann durchaus schief gehen, wie in der Geschichte einer Moskauerin, die sich vorsätzlich beim kranken Freund infizierte, mit einem schweren Verlauf auf der örtlichen Intensivstation landete und dort starb.

Das Engagement zur Bekämpfung der Impfskepsis geht von Seiten der Behörden unvermindert weiter. Eine Maßnahme, die in Russland bisher weitgehend unbekannt war, ist in den Startlöchern. 2G oder 3G sind für die Russen bisher noch unbekannte Begriffe, doch die oberste Seuchenbekämpferin – Vize-Premierministerin Tatjana Golikowa – hat bereits vorgeschlagen, den Einlass in Kultur- und Unterhaltungsevents Geimpften und Genesenen vorzubehalten. Weitere kreative Ideen zur Steigerung der Impfrate sind spezielle russische Entwicklungen. So gibt es den Vorschlag, Geimpften einen Anspruch auf zwei zusätzliche freie Arbeitstage zu gewähren.

Sorge herrscht in Russland, dass der neuerliche Lockdown die Erholung der russischen Wirtschaft aus der Corona-Rezession verzögert. Regierungschef Mischustin bereitet deswegen bereits neue Maßnahmen zur Stütze der gebeutelten Betriebe vor, wie zinsgünstige neue Kredite. Die Regierung reagiert damit auf eine Entwicklung, dass Banken den Unternehmern aus von der Pandemie besonders betroffenen Branchen nur noch sehr restriktiv Kredite gewähren, wie das Medienportal RBK schreibt. Die Vergabe neuer Kredite könne bei einem längeren Andauern der Maßnahmen um 20 % einbrechen.

Titelbild
Ärzte vor einem Krankenhaus in Tomsk. Quelle: Dmitriy Kandinskiy I Shutterstock.com