Russische Wirtschaft: Kräftige Zinserhöhung soll Inflationstempo bremsen

Der aktuelle Produktionsanstieg lässt 2021 rund 3,5 % BIP-Wachstum erwarten

Die russische Zentralbank erhöhte ihren Leitzins am Freitag um einen halben Prozentpunkt auf 5,5 Prozent. Zudem kündigte ihre Präsidentin Elvira Nabiullina weitere Anhebungen an. Der Anstieg der Verbraucherpreise hatte sich im Mai im Vorjahresvergleich von 5,5 auf 6,0 Prozent beschleunigt. Deswegen war vielfach mit der Erhöhung des Leitzinses um 0,5 Prozentpunkte gerechnet worden. Die offene Ankündigung baldiger weiterer Erhöhungen überraschte aber viele.

Das unerwartet starke Wachstum der Nachfrage treibt die Preise

Zentralbankpräsidentin Nabiullina verwies zur Begründung der Leitzinserhöhung auf die gestiegenen Inflationsrisiken. Der Anstieg der Verbraucherpreise habe sich schneller als erwartet beschleunigt. Stark steigende Preise könnten die wirtschaftliche Erholung Russlands auf längere Sicht gefährden.

Bisher hat sich die russische Wirtschaft schneller als erwartet erholt, heißt es in einer Presseerklärung der Zentralbank. Die Produktion habe in den meisten Wirtschaftsbereichen bereits das vor der Pandemie erreichte Niveau überschritten. Nach Einschätzung von Zentralbankpräsidentin Nabiullina dürfte das Bruttoinlandsprodukt schon im laufenden zweiten Quartal wieder so hoch sein wie vor der Pandemie.

Nabiullina erwartet, dass die Inflationsrate mindestens in den nächsten 12 Monaten über dem von der Zentralbank angestrebten Ziel von 4 Prozent liegen wird. In der ersten Juni-Woche habe sich der Preisanstieg auf 6,2 Prozent beschleunigt. Das verschärfte Inflationstempo mache weitere Anhebungen des Leitzinses erforderlich. Preistreibenden Druck auf der Nachfrageseite bringt die unerwartet rasche Erholung der russischen Wirtschaft. Weitere „Inflationstreiber“ sind aber auch in Russland zum einen die weltweit steigenden Rohstoff- und Nahrungmittelpreise. Außerdem gibt es durch Unterbrechungen globaler Lieferketten Verknappungen des Angebots.

Konjunkturforscher der HSE erwarten Ende 2021 noch 5,5 Prozent Inflation

Am Tag vor der Leitzinsentscheidung veröffentlichte das Konjunkturforschungszentrum der renommierten Moskauer „Higher School of Economics“ einen Artikel zur Geldpolitik der Zentralbank und zur Entwicklung der Verbraucherpreise. Er enthält auch Prognosen zur Entwicklung des Anstiegs der Verbraucherpreise bis Ende 2021.

Die HSE-Forscher meinen, dass sich der „Abkühlungseffekt“ einer „festen“ Geldpolitik auf die Konjunktur erst an der Wende vom dritten zum vierten Quartal 2021 zeigen dürfte. Die Dämpfung der Verbrauchernachfrage erfordere eine „signifikante Straffung“ der Geldpolitik der Zentralbank. Die Maßnahmen müßten sich auch auf die Entwicklung der Verbraucherkredite richten.

Derzeit gehen die HSE-Forscher davon aus, dass sich der Anstieg der Verbraucherpreise bis Ende 2021 insgesamt nur auf 5,4 bis 5,6 Prohzent abschwächen dürfte, wie die folgende Abbildung der HSE in der dunkelblauen Linie zeigt.

Die rote Linie zeigt die Entwicklung des Anstiegs der Lebensmittelpreise. Bisher stiegen sie überdurchschnittlich stark (Mai 2021/Mai 2020: + 7,4 Prozent). Hier erwartet die HSE bis Ende 2021 unter anderem wegen eines steigenden Angebots aus inländischer Produktion merklich niedrigere Preissteigerungsraten. Im Dezember dürften die Lebensmittelpreise nicht mehr überdurchschnittlich stark steigen.

Bei den „Nicht-Lebensmitteln“ (grüne Linie), die sich im Mai im Vorjahresvergleich um  6,7 Prozent verteuerten, rechnet die HSE hingegen bis Ende 2021 mit einer anhaltend hohen Teuerungsrate von rund 7 Prozent. Dazu dürfte beitragen, dass die Nachfrage der Verbraucher durch die die Erwartung einer baldigen Verteuerung von Verbraucherkrediten verstärkt wird.

Der Preisanstieg bei den Dienstleistungen (hellblaue Linie), der im Mai im Vorjahresvergleich nur 3,3 Prozent betrug, dürfte laut der HSE-Prognoses unter anderem wegen der verstärkten Nachfrage nach touristischen Dienstleistungen im Inland merklich anziehen, bleibt aber unterdurchschnittlich.

Verbraucherpreisanstieg 2019 bis 2021

Anstieg gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent

Tatsächliche Werte und Prognosen des HSE-Konjunkturforschungszentrums

Quellen: Rosstat, Prognosen des Konjunkturforschungszentrums der Higher School of Economics;
Igor Safonov; HSE: Inflation and Monetary Policy; Neutrality ahead of schedule; 10.06.2021

Anders als die neue Prognose der HSE-Konjunkturforscher rechneten die meisten anderen Analysten bisher mit einem deutlich stärkeren Rückgang der Inflationsrate im Verlauf des Jahres 2021. So ergab sich bei einer Anfang Juni veröffentlichten Umfrage der Zentralbank bei 26 russischen und internationalen Banken und Forschungsinstituten, dass im Mittelwert erwartet wird, dass der Anstieg der Verbraucherpreise im Dezember 2021 auf 4,9 Prozent sinkt. Die Zentralbank selbst ging in ihrer letzten Prognose vom 23. April auch davon aus, dass der Verbraucherpreisanstieg Ende 2021 zwischen 4,7 und 5,2 Prozent betragen wird. Zentralbankpräsidentin Nabiullina kündigte in ihrer Pressekonferenz am Freitag aber an, dass diese Prognose angehoben werden wird. Das berichtet Finam.ru.

Zentralbank-Umfrage lässt 3,5 Prozent Wachstum im Jahr 2021 erwarten

Ihre mittelfristige Prognose zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bis 2023 will die Zentralbank bei ihrer nächsten Leitzinsentscheidung am 23. Juli aktualisieren. Derzeit geht sie davon aus, dass in diesem Jahr eine gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate von 3,0 bis 4,0 erreicht wird.

Genau in der Mitte dieser Spanne liegt der Mittelwert der Wachstumserwartungen, die die Zentralbank in ihrer Umfrage bei Banken und Forschungsinstituten ermittelte. 2022 ist laut der Umfrage mit einem deutlichen Rückgang der Wachstumsrate auf 2,4 Prozent zu rechnen. 2023 soll sich das Wachstum weiter auf 2,2 Prozent abschwächen.

Die folgende Abbildung zeigt diese Entwicklung des Mittelwertes der Wachstumsprognosen in der Zentralbank-Umfrage in den Jahren 2021 bis 2023 sowie die Spanne der jeweils höchsten und niedrigsten Wachstumsprognosen.

Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber Vorjahr in Prozent

Median und Prognosespannen laut Zentralbank-Umfrage für 2021 bis 2023

bcs-express.ru: The Bank of Russia presented the results of a macroeconomic survey of analysts; 03.06.2021; Zentralbank: Macroeconomic survey of the Bank of Russia; 03.06.2021

FocusEconomics-Umfrage ergab kaum niedrigere Wachstumsprognose

Die in der letzten Woche veröffentlichte Umfrage des in Barcelona ansässigen Beratungsunternehmens FocusEconomics ergab für das Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2021 mit 3,2 Prozent einen kaum niedrigeren Mittelwert der  Prognosen als die Zentralbank-Umfrage. Die FocusEconomics-Umfrage erfasst noch mehr Prognosen als die Zentralbank-Umfrage. Befragt werden aber nur wenige russische Banken und Forschungsinstitute.

Wachstumsprognosen 2020 bis 2023

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

  202120222023
ING Bank, Amsterdam11.06.212,52,23,0
Helaba, Frankfurt11.06.213,02,0 
RF Akademie der Wissenschaften10.06.213,43,02,7
OPEC, Wien10.06.213,0  
Weltbank08.06.213,23,22,3
FocusEconomics Consensus08.06.213,22,62,3
DekaBank, Frankfurt08.06.213,52,0 
Commerzbank, Frankfurt04.06.213,72,5 
Zentralbank-Umfrage03.06.213,52,42,2
IHS Markit03.06.213,1  
Sberbank01.06.213,8  
ACRA Rating31.05.213,53,02,2
OECD31.05.213,52,8 
Scope Ratings, Berlin21.05.213,02,7 
Economist Intelligence Unit, London18.05..213,22,31,8
EU-Kommission12.05.212,72,3 
HSE-Umfrage12.05.213,12,42,3
Gaidar-Institut29.04.212,6 bis 2,81,9 bis 2,41,7 bis 2,2
Wirtschaftsministerium24.04.212,9 Urals 60,3 $/b3,2 Urals 56,2 $/b3,0 Urals 54,8 $/b
Russische Zentralbank23.04.213,0 bis 4,0 Urals 60 $/b2,5 bis 3,5 Urals 55 $/b2,0 bis 3,0 Urals 50 $/b
WIIW Wien15.04.213,22,72,3
Gemeinschaftsdiagnose15.04.213,02,7 
Internationaler Währungsfonds06.04.213,83,8 

BOFIT zeigt das Wachstum wichtiger Wirtschaftsbereiche seit 2018

Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank BOFIT gibt in der jüngsten Ausgabe von „BOFIT Weekly“ einen Überblick, wie tief die Produktion wichtiger Branchen während des Lockdowns im Frühjahr 2020 sank und wie rasch sie sich erholt haben. In vielen Wirtschaftsbereichen ist die Produktion bereits wieder höher als vor der Krise stellt auch BOFIT fest.

Dazu veröffentlicht das Institut folgende Abbildung. Ausgehend von dem im Jahr 2018 erreichten Produktionsniveau (Index 2018=100) zeigt sie die monatliche saisonbereinigte Entwicklung der Produktion in der Industrie, in der Bauwirtschaft, im Einzelhandel und im Dienstleistungsbereich.

Most branches of the Russian economy continued their rapid recovery in April

BOFIT (Bank of Finland): April output exceeded pre-covid levels in many Russian branches; BOFIT Weekly, 11.06.2021

Am kräftigsten erholt hat sich vom Lockdown des Frühjahres 2020 der reale Einzelhandelsumsatz (grüne Linie). Schon im Sommer 2020 war er wieder etwa so hoch wie 2018. Seit Jahresbeginn 2021 ist er kontinuierlich gestiegen. Der Einbruch des realen Dienstleistungsumsatzes (blaue Linie) war im Lockdown besonders tief. Das Niveau des Jahres 2018 wurde um gut ein Drittel unterschritten. Inzwischen ist der reale Umsatz im Dienstleistungsbereich saisonbereinigt aber wieder fast ebenso hoch wie 2018.

Die Bauproduktion (rote Linie) war vom Lockdown im letzten Jahr relativ wenig betroffen. Im Herbst 2020 lag sie – wie auch die Industrieproduktion – wieder auf dem Niveau des Jahres 2018. Die Industrieproduktion (schwarze Linie) erholte sich insgesamt vom Lockdown ziemlich kontinuierlich. Im April 2021 war sie nach Angaben des Statistikamtes Rosstat saisonbereinigt 4,8 Prozent höher als 2018. Die Bauproduktion nahm etwas weniger zu.

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Weitere Lesetipps und Quellen im PDF-Dokument, unter anderem zu:

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