Ukrainekrieg: Der Kampf um die Narrative

Die Deutung von heute bestimmt die Konsequenzen von morgen

Die Kämpfe auf dem Gebiet der Deutung werden zu Kriegszeiten genauso erbittert geführt wie die um militärisches Terrain. Der siegreiche Narrativ kann die Zukunft in hohem Maße prägen.

 von Leo Ensel

Vor einigen Tagen konnte man es im Deutschlandfunk mal wieder hören: „2008 wurde Georgien von Russland überfallen.“

Sie, geschätzte Leserinnen und Leser, sagen, das stimme doch gar nicht! Seit mittlerweile zwölfeinhalb Jahren sei durch eine unabhängige Fact Finding Commission im Auftrag der EU unter Vorsitz der renommierten Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini längst eindeutig geklärt, dass georgisches Militär in der Nacht vom 7. auf den 8. August 2008 eine Großoffensive gegen Südossetien mit Panzern, Kampfjets, Raketenwerfern und Streubomben auf die schlafende Zivilbevölkerung und auf die dort stationierten russischen Friedenstruppen gestartet habe. 162 Zivilisten und 14 Angehörige russischer Friedenstruppen seien dabei ums Leben gekommen.

Fake News als ‚Factum‘

 Tja, da haben Sie recht. Dennoch ändert das nichts daran, dass bis auf den heutigen Tag selbst in renommierten deutschen Leitmedien wie der ZEIT oder den Tagesthemen unwidersprochen behauptet werden kann, Russland sei der Aggressor gewesen. Eine Fake News, die sich längst als ‚Factum‘ durchgesetzt hat.

Und eine beeindruckende Leistung des mit allen amerikanischen PR-Wassern gewaschenen damaligen georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili, der es fertig brachte, einen Krieg zu beginnen und sich anschließend – mit wohlwollendem Rückenwind in den westlichen Medien – der Welt auch noch als verfolgte Unschuld zu präsentieren. Für Russland dagegen, das den Krieg mit einem völlig überzogenen Strike Back tief in georgisches Kernland militärisch zwar gewonnen, publizistisch aber haushoch verloren hatte, ein Desaster. Schließlich lautet seitdem die westliche Erzählung – wie kürzlich in einer Sendung bei Arte mit dem bezeichnenden Titel „Die Rückkehr des russischen Bären“ wieder aufgewärmt –, Saakaschwili sei im Sommer 2008 „den Russen in die Falle gelaufen“.

Die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten: Die USA griffen dem ‚von Russland angegriffenen‘ schuldlosen kleinen Land im Kaukasus mit Militärhilfen großzügig unter die Arme, die Tür zu einer künftigen NATO-Mitgliedschaft blieb nach wie offen und Russland hatte in der westlichen Öffentlichkeit nun wieder das Image eines unberechenbaren potenziellen Aggressors.

Man versteht, warum der Kampf um die Deutung genauso erbittert geführt wird wie der um militärisches Terrain: Die Deutung, die sich heute durchsetzt – bzw. mit der geballten Macht der Leitmedien, oft mit Unterstützung professioneller Propaganda-Think-Tanks, durchgesetzt wird –, bestimmt die Handlungen von morgen.

Die konstruierte Kausalität

Womit wir beim gegenwärtigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine angelangt wären.

Auf der Ebene der Fakten ist unbestreitbar: Russland hat am 24. Februar völkerrechtswidrig die Ukraine angegriffen, es hat zahlreiche Militäranlagen im ganzen Land zerstört, russische Truppenverbände rücken gegen Städte wie Mykolajiw, Charkiw, Sumy, Tschernihiw, vor allem aber gegen die Hauptstadt Kiew vor, Städte wie Cherson und Melitopol im Süden wurden eingenommen, zivile Einrichtungen beschossen, modernste Waffensysteme wie die Hyperschallrakete „Kinschal“ erleben in einem zynischen „realen Feldversuch“ ihre Feuertaufe, über tausend ukrainische Zivilisten wurden getötet, Millionen Menschen sind auf der Flucht, die Hafenstadt Mariupol und andere ukrainische Städte liegen zu großen Teilen in Trümmern.

Die Frage ist: Wie deuten, wie interpretieren wir diese Fakten? In welche Geschichte ordnen wir sie ein? Genauer: Welche Geschichte konstruieren wir um sie herum? Noch genauer: Nach welcher – tatsächlichen oder vorgeblichen – Kausalität ordnen wir welche Ereignisse aus der Vergangenheit zu einer (zumindest logisch stringent aussehenden) Vorgeschichte der aktuellen Kriegshandlungen und welche mögliche Folgerungen ziehen wir daraus für Putins mutmaßliches morgiges Verhalten und die übermorgigen westlichen Konsequenzen?

Die Folgen der jeweiligen Narrative auf der Handlungsebene werden sich – siehe die mit publizistischer Gewalt durchgesetzte (Fake)-Interpretation des Georgienkrieges – gravierend unterscheiden und die künftige Politik des Westens vermutlich auf Jahrzehnte bestimmen.

Highway to War …

 Bezogen auf Russlands Aggression gegen die Ukraine bieten sich aus westlicher Perspektive im Prinzip zwei höchst unterschiedliche Deutungen an. Der ersten, die die westliche Berichterstattung aktuell erdrückend dominiert, liegt eine Mischung aus folgenden – hier als Frage formulierten – Unterstellungen zugrunde: Hat Präsident Putin von Beginn seiner ‚Herrschaft‘ an auf diesen Moment hingearbeitet? Zeigt er jetzt sein wahres Gesicht? Will er die Sowjetunion wiederherstellen? Sind als nächstes das Baltikum, Polen und Moldau dran? Stehen russische Truppen übermorgen wieder vorm Brandenburger Tor?

Aus welchen Motiven handelt er? Machtgier? Unstillbarer Hass auf den Westen und seine Werte? Will er als „Wladimir der Große“ in die Geschichte eingehen? Kriegt er den Hals nicht voll? Ist er etwa krank? Realitätsblind? Größenwahnsinnig? Am Ende gar verrückt?

Verteidigt die Ukraine unter Wolodimir Selenskij nicht nur das eigene Land, sondern vielmehr heldenhaft unsere westlichen Werte? Die Freiheit Europas? Uns?

Stehen EU und NATO im Allgemeinen und Deutschland im Speziellen – natürlich wegen Krieg und Holocaust – der Ukraine gegenüber in einer besonderen moralischen Verantwortung, Pflicht, gar Bringschuld? (Eine Klaviatur, der sich der ukrainische Präsident und sein forscher Botschafter in Deutschland virtuos bedienen).

Folgt man dieser in groben Strichen skizzierten Erzählung, dass Putin nun endlich das realisiert, was er bereits seit Jahren oder Jahrzehnten anstrebte, so liegen die Konsequenzen auf der Hand. Es sind exakt diejenigen, die gerade ohne den geringsten innergesellschaftlichen Widerstand in den EU- und NATO-Staaten flächendeckend durchgesetzt werden: Astronomische Aufrüstungsprogramme, eine Remilitarisierung des Denkens und Handelns, Abbruch nahezu sämtlicher politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und humanitären Kontakte mit der Russischen Föderation und ihren Menschen sowie eine die Grenze des Absurden überschreitende Ächtung und Exklusion von allem, was nur noch im Entferntesten etwas mit Russland zu tun hat. Sie reicht mittlerweile von der Entlassung oder Ausladung politisch unliebsamer prominenter Kulturschaffender – sofern sie den geforderten Distanzierungserklärungen nicht nachkommen – über die Verbannung russischer Waren aus den Supermärkten bis hin zum weltweiten Importverbot russischer Katzen durch die International Federation of Felines und ihrem Ausschluss von den Wettbewerben der International Cat Federation …

Zugleich verlangt diese Erzählung aber auch gebieterisch eine Neubewertung der Vergangenheit: Wenn nämlich Putin schon immer auf den Krieg gegen die Ukraine und womöglich noch Schlimmeres abzielte, dann erweisen sich natürlich all diejenigen, die bis vor Kurzem noch dafür geworben hatten, die russische Perspektive zumindest mal zur Kenntnis zu nehmen, als „geistige Brandstifter“, bestenfalls als „nützliche Idioten“, die nun öffentlich Abbitte und Buße zu leisten haben. Die ehemalige ARD-Moskaukorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz, der gerade von seinem Posten als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums zurückgetretene Matthias Platzeck, der Ex-Vorsitzende des NATO-Militärausschusses General Harald Kujat, der langjährige SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi oder Sarah Wagenknecht können von diesen Anschuldigungen ein Lied singen.

Soweit der nahezu unangefochten herrschende mediale Narrativ, der in der Retrospektive eine Linearität konstruiert, die geradewegs in den gegenwärtigen Krieg führt.

… or Road with many Crossroads?

Eine andere Erzählung, die aktuell allerdings postwendend in geradezu Pawlow‘scher Reflexmanier mit dem Totschlagvorwurf der Russland- und damit Angriffskriegsverteidigung kaltgestellt wird, würde in folgende Richtung gehen: Auf der langen Straße bis zu dem Punkt, an dem wir heute stehen, hat es zahlreiche Kreuzungen, viele potenzielle Abbiegungen gegeben, bei denen die Geschichte einen ganz anderen Verlauf genommen hätte, hätte der Westen rechtzeitig russische Sicherheitsbedürfnisse respektiert.

Diese Erzählung ginge zurück bis ins Frühjahr 1990 in die Zeit der Verhandlungen mit Gorbatschow, die künftige Bündniszugehörigkeit eines wiedervereinten Deutschland betreffend. Sie würde die Bedenken, die Boris Jelzin in den Neunziger Jahren gegenüber dem damaligen US-Präsident Bill Clinton im Vorfeld der ersten NATO-Osterweiterung 1999 äußerte, ebenso berücksichtigen wie die Warnungen des Nestors der amerikanischen Russlandpolitik, George F. Kennan. Sie würde die Bedeutung der insgesamt fünf NATO-Erweiterungen mit 14 neuen Mitgliedern für das russische Sicherheitsbedürfnis herausarbeiten. Sie würde sich mit dem Bruch der 1990 verabschiedeten „Charta von Paris“ durch den Angriffskrieg der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Frühjahr 1999 und der völkerrechtswidrigen Aggression der von den USA und Großbritannien angeführten „Koalition der Willigen“ gegen den Irak im März 2003 – die Zahl der Toten geht in die Hundertausende – beschäftigen. Sie würde die von den USA nicht unterzeichneten bzw. gekündigten Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge – vom A-KSE-Vertrag über die Abrüstung konventioneller Streitkräfte in Europa, den ABM-Vertrag zur Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme, den INF-Vertrag über die Vernichtung landgestützter Kurz- und Mittelstreckenraketen bis zur Kündigung des Open-Skies-Treaty – unter die Lupe nehmen. Sie würde die Bedeutung des weltweiten amerikanischen Raketen‚abwehr‘systems Aegis mit seinen angriffsfähigen Modulen unmittelbar vor der russischen Haustür in Rumänien und Polen würdigen. Und sie würde die diversen vom Westen offen oder clandestin unterstützten Regime-Change-Versuche in Osteuropa und im postsowjetischen Raum von Serbien, Georgien, Kirgistan bis zum Euromaidan in Kiew nicht vergessen.

Sie würde auch die beiden großen Reden Putins in Deutschland – 2001, zwei Wochen nach 9/11 vor dem Deutschen Bundestag und im Februar 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz – nochmals genauer studieren. Das Gleiche würde für die russischen Vorschläge eines Gemeinsamen Sicherheitsraumes von Vancouver bis Wladowostok (der damalige Präsident Medwedew im Juni 2008) und einer Freihandelszone zwischen der EU und Russland (Wladimir Putin in einem Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung am 25. November 2010) gelten.

Man sieht: Überall an dieser endlos langen Straße gab es Kreuzungen. Es hat keinen linearen Highway in diesen russischen Angriffskrieg gegeben, auch wenn die westlichen Leitmedien uns dies jetzt tagtäglich einhämmern!

Möglicherweise war die allerletzte Chance eines noch rechtzeitigen Abbiegens Mitte Dezember letzten Jahres, als Russland seine Sicherheitsinteressen – zugegebenermaßen in gereiztem ultimativen Ton und diplomatisch höchst kontraproduktiv – in Briefen gegenüber der NATO und den USA unmissverständlich formulierte. Niemand weiß, wann genau Putin definitiv die Entscheidung zum Angriff auf die Ukraine, d.h. zur Verwandlung der als Drohkulisse aufmarschierten russischen Truppen in eine Aggressionsarmee, getroffen hat. Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Krieg heute nicht stattfinden würde, wenn der Westen spätestens auf die Briefe vom 17. Dezember flexibler reagiert hätte!

Aber wer es jetzt noch wagt, diese Argumente zu äußern, hat sich im aktuellen Leitmediendauerfeuer definitiv als „geistiger Brandstifter“, wenn nicht als Angriffskriegs-Apologet entlarvt und darf sein künftiges Leben als publizistische Leiche fristen.

Was die Argumentation allerdings nicht widerlegt.

Die Alternativen

 Die Konsequenzen der jeweiligen Deutungen liegen auf der Hand und diejenige, die sich durchsetzt, wird die westliche Politik der nächsten Jahrzehnte bestimmen.

Setzt sich die „Highway to War“-Geschichte durch – wofür zur Zeit so gut wie alles spricht –, dann stehen wir unmittelbar vor einer erneuten Spaltung des europäischen Kontinents, inklusive eines neuen, diesmal rund tausend Kilometer weiter östlichen, Eisernen Vorhanges, der Neuauflage des atomaren Wettrüstens mit immer zielgenaueren Trägersystemen bei immer kürzeren Vorwarnzeiten, kurz: vor einem Kalten Krieg 2.0, der angesichts der höchst instabilen geopolitischen Rahmenbedingungen und der Tatsache, dass sich kaum noch ein relevanter Akteur an Regeln hält, erheblich gefährlicher sein wird als der erste. Den Worst Case mag man sich nicht ausmalen!

Würde sich jedoch allen Erwartungen zum Trotz doch noch die Erkenntnis durchsetzen, dass ohne die Berücksichtigung auch russischer Sicherheitsinteressen, ohne den mühsamen Versuch, die aktuell völlig verfahrene Lage nun als Ausgangspunkt für einen kompletten Restart im Sinne einer neuen Europäischen Sicherheitskonferenz, eines „Helsinki 2.0“, zu nutzen, mit dem Ziel einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur, die den epochalen Satz der blutig geschändeten „Charta von Paris“: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden“ wieder zu ihrem zentralen Eckpfeiler erklärt, eine friedliche Zukunft auf unserem Kontinent nicht möglich ist, dann hätte die Welt vielleicht noch eine Chance.

Wir haben die Wahl.

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