Gemischtes Doppel #28: Mindestens 71 Prozent!

Kolumne: Gemischtes Doppel #28 – Mindestens 71 Prozent!


Liebe Leserinnen und Leser,

es geschehen derzeit wundersame Dinge in Russland!

Plötzlich ist die politische Landschaft in Bewegung geraten. Erst vergangene Woche hatten sich fünf der unbeliebtesten Gouverneure in den Ruhestand verabschiedet. Sie wurden ersetzt durch verhältnismäßig junge Kandidaten, ohne politisches Gewicht. In Russland nennt man solche Leute Technokraten.

Dann folgte ein seltenes Zugeständnis an die Opposition. In St. Petersburg hatten Bürger wochenlang gegen die geplante Übergabe der berühmten Isaaks-Kathedrale an die Orthodoxe Kirche protestiert. Doch die Stadtväter zeigten sich stur. Bis plötzlich Putins Umfeld durchsickern ließ, die Übergabe sei nicht mit dem Kreml abgestimmt gewesen. Flugs verabschiedete sich am Montag der Petersburger Gouverneur in einen angeblich lange geplanten Urlaub.

Am Sonntag dann schlug Putins Chefpropagandist Dmitrij Kisseljow in seinem allwöchentlichen Wochenrückblick ganz neue Töne an. Das Ziel seiner Verbalattacken waren diesmal nicht die üblichen Verdächtigen, sondern die treuen Putin-Fans Witalij Milonow und Jewgenij Fjodorow, beide Abgeordnete von „Einiges Russland“. Milonow hat sich als Vorkämpfer der Orthodoxen Kirche positioniert und hetzt mit Vorliebe gegen „Gayropa”, Fjodorow steht der rechtsnationalistischen „Nationalen Befreiungsbewegung” vor. Bei Kisseljow waren diese nun plötzlich „Spinner.“ Milonow musste sich vor der Kamera für antisemitische Pöbeleien rechtfertigen. Bei Fjodorow war es die Behauptung, Russland sei eine Kolonie der USA, die ihm den Titel „Spinner“ einbrachte.

Was das Ganze sollte, fragen Sie sich?

Die Aufklärung folgte in der Nacht auf Dienstag. Punkt Mitternacht berichteten ein knappes Dutzend russische Agenturen, Zeitungen und Nachrichtenportale, dass Wladimir Putin im März 2018 erneut zur Präsidentschaftswahl antreten will. Die gute Nachricht: Es soll sein letztes Mal sein. Putins Sprecher Dmitrij Peskow dementierte zwar eilig: Es sei verfrüht, über die Kandidatur seines Chefs zu sprechen. Doch angesichts der massiven und gleichzeitigen Berichterstattung besteht kein Zweifel. Das war kein geheimes Geflüster auf den Fluren des Kremls, sondern gezielte Kommunikation der Präsidialverwaltung, Russlands wirklichem Machtzentrum.

Seit vergangenen Sommer hat dort der 54-jährige Ex-Chef des Staatskonzerns Rosatom, Sergej Kirijenko, das Ruder übernommen. Er gilt als rational und ohne politische Ambitionen. Auch sein neues Team tickt ähnlich. Alte und erfahrene Wegbegleiter Putins wie Sergej Iwanow, der einst als Alternative zu Medwedjew gehandelt wurde, schob der Präsident dagegen aufs Abstellgleis. Kirijenko ist der Mann, der für Putin die nächste Amtszeit richten soll. Nun hat sein Team ganz offensichtlich und recht stürmisch die Arbeit aufgenommen. Die Ereignisse der letzten Wochen lassen Schlüsse darauf zu, was in den kommenden Monaten zu erwarten ist.

Die Ausmistung von fünf Gouverneuren auf einen Schlag zeigt, dass Kirijenko keine Stimmenverluste durch unbeliebte Regionalpolitiker riskieren will. Gleichzeitig wird auch das Lager der Krawall-Patrioten sich mäßigen müssen. Kirijenko war einst Parteigenosse des ermordeten Kreml-Gegners Boris Nemzow und dürfte noch immer eine gewisse Nähe zu vielen Oppositionellen und Liberalen in Russland spüren. Die neue Administration will das Image des Kremls offenbar wieder mehr in die Mitte rücken.

Wer allerdings auf ein politisches Tauwetter hofft, kann seine Hoffnungen gleich wieder begraben. Denn das Ziel dieser Feinjustierung sei, Putins bisher bestes Wahlergebnis zu übertreffen. Das berichten die gut informierten Medien übereinstimmend. Mit echter Konkurrenz dürfte das kaum möglich sein. Putins bisherige Bestmarke im Jahr 2004: 71,2 Prozent.


Im Gemischten Doppel geben Inga Pylypchuk (Ukraine) und Maxim Kireev (Russland) im wöchentlichen Wechsel persönliche (Ein)-Blicke auf ihre Heimatländer.

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