Über die Russland-Berichterstattung deutscher Redaktionen
Negative Russland-Schlagzeilen muss man auf Deutsch nicht lange suchen. Viele eint die sehr düstere Schilderung russischer Aktionen gegen den Westen – die mit gesunder, kritischer Berichterstattung aber nichts mehr zu tun haben.
Die Russen und die hohen Energiepreise
So wurde die Schuld am jüngst überhöhten Gaspreis auf dem Europäischen Markt Russland zugeschoben. Die Gaszufuhr sei von den Russen künstlich verknappt worden, um abkassieren zu können und eine schnelle Genehmigung der Gaspipeline Nord Stream 2 zu erzwingen.
Der weltweite Gaspreis basiert natürlich auf Angebot und Nachfrage. Die These der Russlandkritiker ist, dass das Preishoch auf einer künstlichen Angebotsverknappung Russlands beruht. Doch Russland ist kein Monopolist. Tatsächlich beträgt sein Anteil an den Gaseinfuhren in die EU laut Eurostat 39 Prozent. Nahezu ebenso viel Gas kommt in die Union aus Norwegen, weitere Großlieferanten sind Algerien und Katar.
Hier ist der Unmut unter Experten in Russland groß, dass unter all diesen großen Playern nur das eigene Land für das Preishoch verantwortlich gemacht wird. Gegen andere Lieferanten gäbe es keinerlei solche Unterstellungen – schreibt etwa Wladislaw Below von der Russischen Akademie der Wissenschaften in der Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta.
Tatsächlich ist eine erhöhte Nachfrage die Ursache für den Erdgas-Hype. Aufgrund einer in der letzten Saison langen Heizperiode waren die Gastanks in Europa zu Saisonbeginn leer. Und nicht nur Europa braucht aktuell mehr Gas als gewöhnlich. Wie etwa das Handelsblatt schreibt, besteht auch in Fernost aktuell eine erhöhte Nachfrage, die den Preis nach oben treibt. Der Grund für den höheren Verbrauch ist das Ende der Pandemie-Rezession aus 2020.
Der einzige Schutz gegen einen plötzlichen Preisanstieg wären langfristige Lieferverträge, die die EU jedoch aus politischen Gründen nicht besitzt. Übersehen wird auch, dass es schon die Sowjetunion selbst im Kalten Krieg unterlassen hat, den Gashahn zum politischen Druckmittel umzufunktionieren. Nicht aus Großzügigkeit, sondern weil politisch begründete Manipulationen die internationale Zuverlässigkeit Russlands als Energielieferant in Frage stellen – auch für die Kunden in Fernost.
Die Russen und die Impfstoffspionage
Neben dem kalten Wohnzimmer durch Kreml-Knopfdruck sind russische Spione ein beliebtes Thema für düstere Berichte. So war zuerst in britischen und dann deutschen Medien unlängst zu lesen, der russische Coronavirus-Impfstoff Sputnik V sei eine geraubte Kopie des britisch-schwedischen Vakzins AstraZeneca. Hier erfolgte die deutschsprachige Übernahme der Berichte, zurückgehend auf einen britischen Boulevard-Artikel ohne nähere Recherche.
Eine solche hätte ergeben, dass Sputnik V im Gegensatz zu AstraZeneca auf menschlichen, und nicht auf Schimpansen-Viren beruht und dass sich beide Vakzine dadurch unterscheiden, dass Sputnik bei den beiden Injektionen auf verschiedene Vektoren setzt, AstraZeneca auf gleiche. Dies ergibt sich nicht nur aus russischen Stellungnahmen, sondern auch einem Artikel des deutschen Ärzteblatts vom November 2020 – online verfügbar. Mittlerweile wurde der Beitrag auch von der britischen Zeitung Daily Express widerrufen – doch auf Deutsch bleibt er online.
Die Russen und das deutsche Feindbild
Woher kommt das Feindbild Russland in deutschen Redaktionen, das dazu animiert, Boulevard-Geschichten ohne gründliche Recherche als Wahrheit an die Leser zu transportieren? Kritiker sprechen teilweise vom Überbleibsel des Bildes vom „bösen Russland“ aus der Zeit des Ost-West-Konflikts. Wenig seriöse Beobachter fabulieren gar über eine Fernsteuerung deutscher Journalisten von jenseits des Atlantiks.
Doch solche Erklärungsmythen sind weiter weg von der Realität als die kritisierten Berichte. Ein übrig gebliebenes Feindbild aus einer nun 30 Jahre vergangenen Epoche müsste bei jüngeren Kollegen verblassen und ein solcher Rückgang ist nicht feststellbar. Die Journalisten, die solche Berichte verfassen oder übernehmen sind vom Fach, von ihren Inhalten überzeugt und verschiedensten Alters. Ihr Feindbild ist in ihren Überzeugungen verankert.
Die junge Moskauer Analystin Julia Dudnik lieferte hierfür in einem Fachvortrag für die globalisierungskritische NGO ATTAC eine Erklärung. Neben objektiven Gründen wie nationalen Interessen und der fehlenden Bereitschaft, die Perspektive des Anderen zu sehen, sieht sie subjektive Ursachen: Ängste mit geschichtlichem Hintergrund, und vor allem Desinteresse am betreffenden Land spielten bei Feindbild-Journalismus eine Rolle.
Wenn man sich für die Vorgänge dort nicht besonders interessiere, reichten vereinfachte Informationen. Man habe schlicht und ergreifend keine Lust, Nachrichten vor der Veröffentlichung zu überprüfen, die gut in das eigene Bild passen. Dadurch gingen Details verloren, der Blick werde getrübt. Das sei nicht akzeptabel im Bereich professioneller Journalisten, aber dennoch Realität – auch in der deutsch-russischen Berichterstattung.
Tieferes Interesse an Russland abseits des Düsteren ist nicht „sexy“ unter deutschen Journalisten. Doch darum geht es bei echtem Journalismus nicht. Sondern um eine Pressearbeit, die auch hinterfragt, was scheinbar ins eigene Bild passt. Das bedeutet nicht, umgekehrt in einen unkritischen Russlandjubel auszubrechen, der einfach beim oberflächlichen schwarz-weiß Bild weiß und schwarz vertauscht – einer Angewohnheit mancher angeblicher deutscher „Russlandfreunde“. Es geht vielmehr darum, alle Graustufen der tatsächlichen Vorgänge aufzunehmen und zu den Lesern zu transportieren.
Etwa bei Themen wie der Pressefreiheit oder der aktuellen russischen Innenpolitik kann sich durchaus ein recht dunkelgraues Bild ergeben. Aber Demokratiedefizite oder Korruption führen nicht automatisch dazu, dass das Land Gaskunden erpresst oder sein Impfstoff gestohlen sein muss. Diese Verbindung macht aus einer kritischen Berichterstattung eine feindliche. Oder wenn Journalisten angesichts oft ähnlicher real-negativer Nachrichten aus Russland das Gefühl haben, durch zweifelhafte Abwechslung mehr Düsternis in ihr eigenes Bild geben zu müssen.