Die Konjunkturexperten in Russland und Deutschland sind sich inzwischen weitgehend einig. Fast alle Prognosen für das Wachstum der russischen Wirtschaft im Jahr 2024 liegen zwischen 3,5 und 4 Prozent. Damit wird es ähnlich stark sein wie 2023 (+ 3,6 Prozent). 2025 wird sich Russlands Wirtschaftswachstum aber voraussichtlich mindestens halbieren. Das zeigen die am 11. Dezember 2024 veröffentlichten Ergebnisse der jüngsten Analysten-Umfrage der russischen Zentralbank und die einen Tag später veröffentlichten „Winterprognosen“ der fünf führenden deutschen Konjunkturforschungsinstitute.
Anzeichen für eine Abkühlung der Konjunktur gibt es. Auch deswegen wurde bereits die letzte Erhöhung des Leitzinses der russischen Zentralbank auf 21 Prozent von vielen russischen Unternehmern und auch von Forschungsinstituten kritisiert. Professor Rolf Langhammer, früherer Vizepräsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, hält die „konventionelle“ Politik der Leitzinserhöhungen zur Dämpfung der Inflation hingegen für richtig. Mit hohen Zinsen könne man inflationäre Erwartungen brechen. Diese Politik habe aber natürlich einen hohen Preis sagte er im Podcast „Zaren, Daten, Fakten“ der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer.
Führende Deutsche Wirtschaftsinstitute: Nur 2024 hält Russlands kräftiges Wachstum noch an
Die deutschen Konjunkturforschungsinstitute erwarten in ihren „Winterprognosen“ zur Entwicklung der deutschen und der internationalen Wirtschaft jetzt im Durchschnitt, dass die russische Wirtschaft im Jahr 2024 wie 2023 ein Wachstum von rund 3,6 Prozent erreicht. Drei Institute veranschlagen den Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion auf jeweils +3,5 Prozent (DIW Berlin, Ifo Institut München, IWH Halle). Das RWI Essen rechnet mit +3,8 Prozent.
Das Kieler Institut für Weltwirtschaft geht sogar wie die russische Regierung davon aus, dass sich Russlands Wirtschaftswachstum 2024 auf +3,9 Prozent beschleunigt. Es bleibt damit bei seiner Anfang September veröffentlichten „Herbstprognose“. Auch seine viel niedrigeren Wachstumsprognosen für 2025 (+1,5 Prozent) und 2026 (+1,0 Prozent) behält das IfW Kiel in seiner „Winterprognose“ unverändert bei.
Das RWI Essen verminderte seine Russland-Prognosen als einziges der deutschen Institute im Vergleich mit seiner Anfang September veröffentlichten „Herbstprognose“ merklich. Es senkte seine Prognosen für 2024 von +4,3 auf +3,8 Prozent und für 2025 von +1,8 auf +1,3 Prozent.
Ab 2025 flaut Russlands starkes Wirtschaftwachstum ab
Im nächsten Jahr wird sich das Wachstumstempo der russischen Wirtschaft laut der RWI-Prognose also um rund zwei Drittel verlangsamen. Das IfW Kiel rechnet mit einem ähnlich starken Einbruch des Wachstums von +3,9 Prozent im Jahr 2024 auf nur noch +1,5 Prozent. Auch das DIW Berlin, das Münchner ifo Institut und das IWH Halle erwarten 2025 ein viel schwächeres Wachstum als 2024. Ihre Prognosen für den Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts im nächsten Jahr erreichen nur noch +1,3 Prozent (IWH Halle) bis +1,7 Prozent (DIW Berlin). 2026 erwarten die deutschen Institute sogar nur noch 0,5 bis 1,5 Prozent Wachstum in Russland.
Konjunktur-Optimismus in der Russischen Akademie der Wissenschaften
Ein merklich höheres Wachstum der russischen Wirtschaft als die deutschen Institute prognostiziert das Konjunkturforschungsinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften. Mitte Dezember nahm das RAS-Institut zwar seine Wachstumsprognose für 2025 von 3 Prozent auf 2 Prozent zurück. Damit erwartet es aber immer noch mehr Wachstum als die russische Zentralbank (+ 0,5 Prozent bis +1,5 Prozent). Die RAS-Prognose fällt jedoch unter die Prognose der Regierung (+ 2,5 Prozent).
Schon 2026 erwartet das RAS-Institut aber ein erneutes Anziehen des BIP-Anstiegs auf +2,9 Prozent. Es sieht die Perspektiven der russischen Wirtschaft damit auch deutlich positiver als die Teilnehmer bei jüngsten Analysten-Umfrage der russischen Zentralbank. Sie erwarten im Mittelwert, dass sich das Wachstum der russischen Wirtschaft 2025 auf 1,5 Prozent abschwächt und sich 2026 lediglich auf 1,7 Prozent beschleunigt.
BIP-Prognosen 2024 bis 2026: Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent
2024 | 2025 | 2026 | ||
Russian Academy of Sciences; Quarterly | 16.12.24 | + 3,9 | + 2,0 | + 2,9 |
Winterprognosen deutscher Institute im Vergleich mit ihren Herbstprognosen | ||||
IfW Kiel | 12.12.24 | + 3,9 | + 1,5 | + 1,0 |
IfW Kiel | 04.09.24 | + 3,9 | + 1,5 | + 1,0 |
RWI Essen | 12.12.24 | + 3,8 | + 1,3 | + 1,3 |
RWI Essen | 05.09.24 | + 4,3 | + 1,8 | + 1,3 |
DIW Berlin | 12.12.24 | + 3,5 | + 1,7 | + 1,5 |
DIW Berlin | 06.09.24 | + 3,5 | + 1,8 | + 1,4 |
Ifo Institut München | 12.12.24 | + 3,5 | + 1,6 | + 0,5 |
Ifo Institut München | 05.09.24 | + 3,8 | + 1,7 | + 0,5 |
Institut für Wirtschaftsforschung Halle | 12.12.24 | + 3,5 | + 1,3 | + 1,0 |
Institut für Wirtschaftsforschung Halle | 05.09.24 | + 3,6 | + 1,4 | + 1,0 |
Zentralbank-Umfrage vor Leitzinsentscheid | 11.12.24 | + 3,8 | + 1,5 | + 1,7 |
Zentralbank-Umfrage vor Leitzinsentscheid | 16.10.24 | + 3,7 | + 1,8 | + 1,9 |
ING Bank, Amsterdam | 12.12.24 | + 3,8 | + 1,8 | + 0,5 |
OPEC, Wien | 11.12.24 | + 3,5 | + 1,7 | |
DekaBank, Frankfurt | 06.12.24 | + 3,7 | + 1,2 | + 1,0 |
Eurasian Development Bank | 05.12.24 | + 4,1 | + 2,4 | + 1,6 |
OECD Economic Outlook | 04.12.24 | + 3,9 | + 1,1 | + 0,9 |
Interfax-Umfrage, Moskau | 04.12.24 | + 3,8 | + 1,5 | |
Reuters-Umfrage, Moskau und London | 03.12.24 | + 3,8 | + 1,8 | |
CMASF, Moskau | 27.11.24 | +3,5 bis +3,6 | +1,7 bis +2,0 | + 1,8 bis +2,1 |
Berenberg Bank, Hamburg | 25.11.24 | + 3,3 | + 1,4 | +1,4 |
EU-Kommission | 15.11.24 | + 3,5 | + 1,8 | +1,6 |
Higher School of Economics-Umfrage | 14.11.24 | + 3,7 | + 1,6 | +1,5 |
Deutscher Sachverständigenrat Wirtschaft | 13.11.24 | + 3,5 | + 1,7 | |
UNCTAD, Genf | 29.10.24 | + 3,5 | + 1,5 | |
Russische Zentralbank, mittelfr. Prognose | 25.10.24 | +3,5 bis +4,0 | +0,5 bis +1,5 | +1,0 bis +2,0 |
Internationaler Währungsfonds | 22.10.24 | + 3,6 | + 1,3 | |
Weltbank, Washington | 17.10.24 | + 3,2 | + 1,6 | + 1,1 |
WIIW, Wien | 16.10.24 | + 3,8 | + 2,5 | + 2,2 |
BOFIT, Bank of Finland | 01.10.24 | + 3,5 | + 1,0 | + 1,0 |
Gemeinschaftsdiagnose deutscher Institute | 26.09.24 | + 3,8 | + 1,6 | + 1,0 |
EBRD, London | 26.09.24 | + 3,6 | + 1,5 | |
Wneschekonombank Institut, Moskau | 13.09.24 | + 3,7 | + 2,6 | + 2,4 |
Russian Academy of Sciences; Quarterly | 11.09.24 | + 3,7 | + 3,0 | + 2,8 |
Wirtschaftsministerium Russlands | 06.09.24 | + 3,9 | + 2,5 | +2,6 |
Umfrage der russischen Zentralbank: Wirtschaftswachstum sinkt 2025 von +3,8 auf +1,5 Prozent
Die Teilnehmer an der Zentralbank-Umfrage (zu rund 90 Prozent russische Banken, Forschungsinstitute und Medien) rechnen jetzt für 2024 mit einer leichten Beschleunigung des Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts auf +3,8 Prozent (Oktober-Umfrage: + 3,7 Prozent). Damit hat sich die Analysten-Prognose seit Oktober noch mehr der Wachstumsprognose der russischen Regierung von +3,9 Prozent genähert.
Reales Bruttoinlandsprodukt, Veränderung zum Vorjahr in Prozent
Im nächsten Jahr erwarten die Teilnehmer der Umfrage aber einen ähnlich starken Einbruch des Wachstums wie die deutschen Forschungsinstitute. Sie rechnen mit einem Rückgang des BIP-Anstiegs auf nur noch +1,5 Prozent. Das wäre ein Prozentpunkt weniger Wachstum als die russische Regierung annimmt.
RWI Essen: Insbesonders die Ausgaben für das Militär stützten das russische Wachstum
Das Essener „RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung“ kommentiert als einziges der fünf deutschen Institute in seiner „Winterprognose“ auch die Konjunkturentwicklung in Russland. Es hebt hervor, dass die russischen Staatsausgaben, insbesondere im militärischen Bereich, auch im dritten Quartal die Entwicklung in der Industrie und im Einzelhandel maßgeblich stützten.
Das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktion gegenüber dem Vorjahresquartal habe sich im Jahresverlauf kontinuierlich abgeschwächt. Nach einer kräftigen Expansion um 5,4% im ersten Quartal habe die Zunahme der Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal noch 4,1% betragen. Im dritten Quartal habe sie sich weiter auf 3,1% verlangsamt. Die im Laufe des laufenden Jahres nachlassende Wachstumsdynamik weise auf strukturelle Probleme und die begrenzte Nachhaltigkeit der staatlich finanzierten Wachstumsimpulse hin.
Im dritten Quartal 2024 haben sich, so das RWI, alle wichtigen Branchen schwächer als zu Jahresbeginn entwickelt. Die Produktion der Rohstoffindustrie sei geschrumpft. Die Bauproduktion habe stagniert. Die landwirtschaftliche Produktion sei zurückgegangen.
Knappe Produktionskapazitäten und beschleunigte Inflation
Das RWI weist auf die stark gesunkene Arbeitslosenquote hin. Es bestehe ein Mangel an Arbeitskräften sowohl in hochqualifizierten als auch in weniger qualifizierten Bereichen. Der Arbeitskräftemangel dämpfe das Produktionswachstum, während die Löhne stark steigen würden. Die Auslastung der Produktionskapazitäten habe gleichzeitig ein historisches Rekordniveau erreicht. Die Sanktionen und die Abwertung des Rubel würden die Einfuhr von Investitionsgütern erschweren.
Zur Entwicklung von Preisen, Rubel-Kurs und Leitzins meint das RWI:
„Die Verbraucherpreisinflation hat sich im Lauf des Jahres deutlich verstärkt, auch bedingt durch eine erhebliche Abwertung des Rubel. Im Oktober betrug die Teuerungsrate 8,5%. Dabei stiegen die Preise für bestimmte Medikamente, Lebensmittel, Auslandsreisen sowie medizinische und Bestattungsdienste stark an.
Zur Eindämmung der Inflation erhöhte die Zentralbank Ende Oktober den Leitzins auf 21% und signalisierte, dass im Dezember eine weitere Zinserhöhung folgen könnte. Der hohe Leitzins steht in der Kritik, da er das Wachstum der Produktion und die Investitionsbereitschaft der Unternehmen hemmt. Trotz der Erhöhungen des Leitzinses expandierten die Unternehmenskredite in den letzten Monaten weiterhin rasant.“
Das RWI prognostiziert, dass der Anstieg der russischen Verbraucherpreise im Jahresdurchschnitt 2024 8,4 Prozent erreichen wird. Bis 2026 werde er nur auf 5,0 Prozent sinken (siehe folgende Tabelle).
Russlands Bruttoinlandsprodukt wird laut RWI im Jahr 2024 um 3,8% steigen und in den Jahren 2025 und 2026 um jeweils 1,3% zulegen. Es würde damit in den beiden nächsten Jahren kaum schwächer steigen als die Wirtschaftsleistung im Euro-Raum (2025: +1,3 %, 2026: +1,5 %).
„The Bell“: Scharfe Kritik von Bankern und Geschäftsleuten an der russischen Zentralbank
Die vom RWI Essen in seiner „Winterprognose“ angesprochene Kritik an der russischen Zentralbank wegen der starken Erhöhung ihres Leitzinses auf 21 Prozent hat das Internet-Magazin „The Bell“ in seinem Wochenbericht vom 13. Dezember erneut ausführlich kommentiert. Es erwartet „Tough choices for Russia’s Central Bank“.
Die Autoren des Wochenberichts sind Alexandra Prokopenko (Fellow des Berliner Carnegie Russia Eurasia Center) und Alexander Kolyandr (Non-resident Senior Fellow at the Center for European Policy Analysis, CEPA). Sie stellen fest, dass die Zentralbank im Laufe des letzten Monats scharfe Kritik von „Bankern und Geschäftsleuten“ einstecken mußte. Große Teile der Wirtschaft, das russische Parlament und einige Minister wollten keine weiteren Zinserhöhungen. Im Idealfall wollten sie Zinssenkungen sehen.
„The Bell“ nennt u.a. folgende Beispiele für die Kritik aus der Wirtschaft an der Zentralbank:
- Sergey Chemezov, Chef des staatlichen Rüstungskonzerns Rostec, hat zweimal öffentlich damit gedroht, dass Rostec seine Waffenexporte aufgrund der hohen Kreditkosten einstellen würde.
- Ein Drittel der russischen LKW-Unternehmen hat erklärt,sie befürchteten, im nächsten Jahr aufgrund gestiegener Kosten bankrott zu gehen. Andrey Repik, Chef des Unternehmerverbandes „Delovaya Rossiya“ („Business Russia“), warnte letzten Monat in einem RBC-Interview vor „garantierten“ Insolvenzen.
- Ein Viertel der im November von der „Russischen Union der Industriellen und Unternehmer“ befragten Unternehmen berichtetenvon einer sich verschlechternden finanziellen Lage.
Die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer ging am Schluss ihrer Fokusanalyse vom 09.12. zum Wirtschaftsforum „Russia Calling“ der VTB-Bank ausführlich auf die Kritik der Wirtschaft an der Zentralbank ein. Zur Position Präsident Putins in der Diskussion über die Geldpolitik berichtet die Kammer:
Putin stellte sich hinter die jüngste Entscheidung der Zentralbank von Ende Oktober, als sie den Leitzins von 19% auf 21% anhob. Der Währungshüter habe sich dazu gezwungen gesehen, so der Präsident.
“Es gibt auch Kritiken, viele Kritiken, die sagen, das würge die Wirtschaftsentwicklung ab. Andererseits gibt es Fachleute, die sagen, dass das unvermeidlich sei. Es gibt solche, die sagen, dass ein 21% Leitzins bei 8,8% Inflation zu hoch sei.
Ich werde jetzt nicht darauf eingehen, ob das gut oder schlecht ist. Ich möchte nur sagen, dass hierdurch sicher bestimmte Schwierigkeiten für Unternehmen in der Realwirtschaft entstehen, die aber weiterhin Kredite aufnehmen.“
Auch Josephine Bollinger-Kanne analysierte in „Finanzmarktwelt“ die geldpolitische Diskussion beim VTB-Wirtschaftsforum („Wie Russland das Inflationsfieber behandeln will“).
„Russische Welt TV“ veröffentlichte zum VTB-Forum ein YouTube-Video mit Kommentaren Präsident Putins zur Entwicklung der deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen und mit seiner Beantwortung der Frage eines deutschen Teilnehmers (siehe auch in „Anti-Spiegel“ veröffentlichte deutsche Mitschrift der Anwort Putins von Thomas Röper, der auch eine deutsche Übersetzung der Rede Putins veröffentlichte).
The Bell: „Die Unabhängigkeit der Zentralbank steht auf dem Spiel“
Bei der bevorstehenden Leitzinsentscheidung am 20. Dezember steht nach Einschätzung von Alexandra Prokopenko, die früher auch als Beraterin der Zentralbank tätig war (Auszug aus FAZ-Interview mit ihr), und Alexander Kolyandr die Unabhängigkeit der Zentralbank auf dem Spiel. Der enorme Druck auf die Zentralbank im Vorfeld der Entscheidung zeige das, heißt es in „The Bell“. Nabiullina müsse sich entscheiden: die institutionelle Unabhängigkeit der Zentralbank zu bewahren oder zum erklärten Feind eines großen Teils der russischen Wirtschaft zu werden.
Die beiden Autoren argumentieren, dass angesichts der steigenden Preise und der wachsenden Inflationserwartungen eine weitere Erhöhung des Leitzinses „die logische Wahl“ sein sollte. Die historische Erfahrung zeige, dass die Unabhängigkeit der Zentralbank sowie das Vertrauen der Wirtschaftsakteure von grundlegender Bedeutung für eine wirksame Geldpolitik und eine gesunde Wirtschaft seien. Dem Druck nachzugeben und die Zinsen zu senken, beschleunige das Wachstum nicht, sondern verlängere die hohe Inflation.
Hartnäckig hohe Inflation lässt 2025 anhaltend hohen Leitzins erwarten
„The Bell“ verweist darauf, dass die jährliche Inflationsrate in der Woche zum 09. Dezember 9,32 Prozent erreicht habe. Ein weiterer inflationsfördernder Faktor sei der schwächelnde Rubel, der unter den neuen US-Sanktionen gegen den russischen Finanzsektor leide (Trading Economics Chart). Angesichts der Indexierung der Recyclinggebühr für Autos zum 1. Januar sowie indexierter Fahrpreiserhöhungen für den Güter- und Personenverkehr sei es auch unwahrscheinlich, dass sich die Inflation nach den Neujahrsfeiertagen verlangsame.
Prokopenko und Kolyandr sehen diese Einschätzung der Inflationsentwicklung von den Ergebnissen der jüngsten Analysten-Umfrage der Zentralbank bestätigt. Auch die von der Zentralbank Anfang Dezember befragten Analysten würden davon ausgehen, dass die Inflation hartnäckig hoch bleibe. Ihre Inflationsprognose sei für 2025 auf 6 % gestiegen (von 5,3 %) und für 2026 auf 4,5 % (von 4,1 %).
Verbraucherpreise, jährlicher Anstieg Dezember/Dezember in Prozent
Prof. Langhammer: Russlands Kriegswirtschaft ist an Kapazitätsgrenzen gestoßen
Zum Streit über die Politik der russischen Zentralbank äußerte sich im Podcast der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer im Gespräch mit Thomas Baier auch der frühere Vize-Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Professor Rolf Langhammer.
Auch in der derzeitigen russischen „Kriegswirtschaft“ werden, so Langhammer, zunächst alle Produktionskapazitäten ausgeschöpft. Die anfängliche enorme Boomphase stoße aber sehr schnell an die Grenzen der Produktionskapazitäten der russischen Wirtschaft. Die Nachfrage könne aus der inländischen Produktion nicht vollständig gedeckt werden. Gleichzeitig sei für Russland ein Zugang zu Einfuhren wegen der Sanktionen erschwert oder gar nicht möglich.
Die überhitzte Nachfrage treibt die Inflation und schwächt den Rubel
Von der überhitzten Nachfrage werden, so Langhammer, inflationäre Impulse ausgelöst, die auch zu einer Abschwächung des Rubels führen können. Zum Wertverlust des Rubels trügen außerdem die Sanktionen der USA gegen russische Banken bei, insbesonders die Sanktionen gegen die Gazprombank. Für Russland werde es immer schwieriger, seine Erlöse aus dem Verkauf von Öl und Gas in US-Dollar zu erzielen.
Das Angebot an Devisen werde somit immer geringer, während gleichzeitig die Nachfrage nach Devisen in Russland hoch sei. Jeder Produzent und Verbraucher in Russland versuche schließlich, seine Erlöse wertstabil zu halten, indem er sie in ausländischer Währung halte.
Die Politik der russischen Zentralbank ist richtig, Alternativen sind „gefährlich“
Professor Langhammer bezeichnet die Politik der Zentralbank, zur Dämpfung der Inflation den Leitzins zu erhöhen, als „konventionell“ (also als üblich). Diese Politik sei richtig. So könnten inflationäre Erwartungen gebrochen werden.
Diese Zinspolitik habe allerdings „einen hohen Preis“. Die einheimischen Produzenten würden natürlich protestieren, weil bei so hohen Zinsen wie in Russland nicht mehr „vernünftig“ investiert werden könnte. Gleichzeitig fehle Investoren in Russland auch die Möglichkeit, auf ausländische Finanzierungsquellen zurückzugreifen.
Mittelfristig werde Russland mit dieser Zinspolitik nach seiner Einschätzung vielleicht in eine Rezession oder eine Stagnation der Wirtschaft getrieben. Langhammer verweist darauf, dass für 2025 nur noch mit einem Wachstum von etwa 1,6 Prozent gerechnet werde, das Wachstum also stark einbreche (siehe auch „Gemeinschaftsdiagnose“ der deutschen Institute vom 26. September).
Eine Bindung des Rubel-Kurses an eine andere Währung hält Langhammer für eine „gefährliche Alternative“. Viele Länder, vor allem in Lateinamerka, hätten das zwar in der Vergangenheit getan, um die Inflationserwartungen zu brechen. Es habe sich aber immer als falsch erwiesen. So lade man die internationalen Finanzmärkte ein, gegen die Bindung der Währung zu spekulieren. Das würde „sehr teuer“.
Das Schlimmste was passieren könnte wären „Schwarzmärkte“
Professor Langhammer betont, dass sich Russland derzeit in keiner „normalen Situation“ befinde. Die russische Regierung müsse verhindern, dass die Unterstützung der Bevölkerung für ihre Politik schwinde. Für die Zentralbank und das Finanzministerium sei eine ganz wichtige Fragestellung: Wie wirken sich die enormen Zinserhöhungen auf den Zusammenhalt der russischen Wirtschaft und der russischen Gesellschaft aus?
Das Schlimmste was passieren könnte, wenn man versuche, den Rubel an den Dollar zu binden, wäre die Bildung von „Schwarzmärkten“. Damit würde die Bevölkerung gespalten in diejenigen, die Zugang zu Dollars hätten, und diejenigen, die dazu keine Möglichkeit hätten. Das wäre für den Zusammenhalt der russischen Bevölkerung, der ja für Präsident Putin ganz wichtig sei, „verheerend“ (siehe dazu: BR24, Peter Jungblut: “Leute geraten in Panik”: Russen fürchten um Dollar-Ersparnisse, 13.06.24).
Die Rückkehr zu einer „Friedenswirtschaft“ in Russland wird sehr schwierig
Zur Frage, ob bei einer „Normalisierung“ der politischen Situation in Russland, eine Auflösung der hohen Sparvermögen und damit ein „Konsumboom“ zu erwarten sei, weist Langhammer darauf hin, dass er in der Zeit der „Konversion von der Kriegs- zur Friedenwirtschaft“ Realeinkommensverluste der Bevölkerung erwarte.
Er gehe davon aus, dass die Verbraucher dann sehr hohe Preise für Konsumgüter bezahlen müssten. Konsumgüter aus dem Ausland würden sie beim sehr schwachen Rubelkurs sehr teuer bezahlen müssen oder gar nicht bekommen können. Die Umstellung der heimischen Produktion werde aber auch sehr schwierig sein. Sie werde nicht von heute auf morgen möglich sein.
In einem ZDF-heute-Interview nahm Prof. Langhammer Ende Oktober anlässlich des Gipfeltreffens der BRICS-Staaten in Kasan auch zur Frage Stellung, ob es den BRICS-Staaten gelingen werde, die starke Stellung des US-Dollars im internationalen Währungssystem abzuschwächen.
Podcast-Tipps:
Wir empfehlen den Podcast Zaren.Daten.Fakten. Der Podcast zur russischen Wirtschaft. Deutsch-Russische Auslandshandelskammer.
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