Morgenkommentar am 11. Mai 2017

Zum ersten Mal seit über zehn Jahren bewertet die Hälfte der Russen die Rolle des Sowjetdiktators Josef Stalin im Zweiten Weltkrieg als positiv. Bei der letzten Befragung 2005 waren es nur 40 Prozent gewesen. 32 Prozent sehen seinen Beitrag zum Kriegsgeschehen 1941-45 gemischt, acht Prozent negativ.

Ob Stalin, der sich sechs Wochen nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht am 22. Juni 1941 zum Obersten Befehlshaber ausrufen ließ, seinem Land damit mehr gedient oder geschadet hat, wurde bereits unter dem Kommunismus diskutiert, wenn auch meist hinter vorgehaltener Hand. Kritiker werfen ihm seit jeher vor, Millionen von Rotarmisten als Kanonenfutter in sinnlose Materialschlachten geschickt zu haben.

Das betrifft nicht zuletzt die mit 2,5 Millionen sowjetischen Soldaten geführte Schlacht um Berlin. Statt die deutsche Hauptstadt einzukesseln und auszuhungern, befahl Stalin die propagandistisch ungleich wirksamere militärische Eroberung. Keinesfalls wollte er riskieren, sich den Triumph mit US-General Eisenhower, dessen Truppen an der Elbe standen, zu teilen. Berlin, Quelle und Herz des Bösen, musste Stalins Beute werden. Der Ehrgeiz kostete rund 350.000 seiner Soldaten das Leben.

Befragt, welche Gefühle die russische Bevölkerung am 9. Mai, dem Tag des Sieges, bewegen, antworten 29 Prozent “Nationalstolz und Patriotismus” und 18 Prozent “Trauer und Schmerz”. 87 Prozent geben an, dass Familienmitglieder am Kampf teilgenommen hätten.

Stalins Beitrag zu der fast vier Jahre anhaltenden Hölle wird sich verklären, je tiefer der Krieg ins Dunkel der Vergangenheit rückt. Im 22. Jahrhundert schwebt er dann im russischen Pantheon wie Bonaparte im französischen. The winner takes it all. Und Napoleon hat nicht einmal gewonnen.