Russland: Das überhitzte Wachstum treibt Preise und Zinsen nach oben

Um rund 5 Prozent dürfte die russische Wirtschaft im ersten Halbjahr 2024 im Vorjahresvergleich gewachsen sein, noch schneller als im gesamten Jahr 2023 (+ 3,6 Prozent). Das vermutete Ende Juni Präsident Putin bei einem Gespräch mit Absolventen eines Fortbildungsprogramms der Akademie für Volkswirtschaft und Öffentliche Verwaltung (RANEPA).

Die am 03. Juli vom Statistikamt Rosstat veröffentlichten Konjunkturdaten für Mai stützen Putins Wachstumsschätzung. Das russische Wirtschaftsministerium geht nach ersten Berechnungen davon aus, dass Russlands reales Bruttoinlandsprodukt in den ersten fünf Monaten 5,0 Prozent höher war als vor einem Jahr (Finmarket.ru).

Immer mehr Analysten erwarten inzwischen für das gesamte Jahr 2024 ein Wachstum der russischen Wirtschaft von rund 3 Prozent. Dazu gehören auch auch das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, die Eurasische Entwicklungsbank und die italienische Großbank UniCredit. Bei einer Anfang Juli veröffentlichten Reuters-Umfrage rechneten die 16 Teilnehmer im Durchschnitt für das Jahr 2024 mit einem Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts von 3,1 Prozent.

The Bell: Eine „Abkühlung“ der überhitzten Wirtschaft ist „äußerst schwierig“

Viele Beobachter sehen im starken Wachstum der russischen Wirtschaft allerdings eine „Überhitzung“, die die Inflation weiter steigen lässt. So meint das von der russischen Regierung als „ausländischer Agent“ eingestufte Internet-Magazin „The Bell“ in seinem wöchentlichen Wirtschaftsbericht vom 28. Juni, nur Präsident Putin feiere Russlands starkes Wirtschaftswachstum immer noch als eine große Errungenschaft, ohne sich möglicher Nachteile bewusst zu sein.

Die „Überhitzung“ der russischen Wirtschaft ist, so „The Bell“, jedoch mittlerweile eine „anerkannte Tatsache“. The Bell verweist darauf, dass Zentralbankpräsidentin Elwira Nabiullina und der Vorstandsvorsitzende der Sberbank Herman Gref darüber offen sprechen würden. Es habe es sich als äußerst schwierig erwiesen, die Wirtschaft wirksam abzukühlen – trotz der Bemühungen der Zentralbank, die ihren Leitzins bisher auf 16 Prozent erhöht hat.

Sberbank-Chef Gref sagte am 03. Juli am Rande eines Finanzforums in St. Petersburg jedoch, dass sich das Wachstum der Hypothekenkredite voraussichtlich im Juli abschwächen werde, da die vergünstigten Hypothekenprogramme ausliefen. Er erwarte eine deutliche Abkühlung des Kreditwachstums in der zweiten Hälfte dieses Jahres (Market Screener/Reuters).

Alexey Zabotkin, Stellvertretender Präsident der russischen Zentralbank, kündigte im TV-Kanal Rossiya-24 an, die jährliche Preissteigerungsrate werde im Juli wahrscheinlich ihren Höhepunkt erreichen. Im Juli sei noch mit deutlichen Anhebungen von Gebühren für Wohnungen und kommunale Dienstleistungen zu rechnen, auf die im Juli 2023 verzichtet worden sei. Vom August zum September werde es dann aber voraussichtlich einen allmählichen Rückgang der jährlichen Inflationsrate geben (Monocle.ru).

Der Preisauftrieb lässt eine Leitzinserhöhung auf bis zu 18 Prozent erwarten

Die jährliche Inflationsrate lag in Russland seit November 2023 zwischen 7,5 und 7,8 Prozent. Im Mai 2024 beschleunigte sich der Anstieg der Verbraucherpreise im Vergleich zum Vorjahresmonat jedoch auf 8,3 Prozent (rote Linie). Im Juni beschleunigte er sich weiter auf 8,6 Prozent (Rosstat.ru; Finmarket.ru).

Russlands Leitzins und Russlands Inflationsrate

bne Intellinews: High inflation could push Russia’s key rate to 18%, 12.07.24

Zur Beschleunigung der hohen Inflationsrate hat die verstärkte Nachfrage der  Verbraucher beigetragen. Angesichts des weit verbreiteten Mangels an Arbeitskräften stiegen die Reallöhne kräftig. Es wurden vermehrt Kredite vergeben.

Nach Einschätzung der von Reuters befragten Analysten wird der Anstieg der Verbraucherpreise bis zum Jahresende 2024 nur auf 6,4 Prozent sinken. Vor einem Monat hatten sie noch mit einem merklich stärkeren Rückgang der Inflationsrate auf 5,6 Prozent gerechnet. Bei einer am 12. Juli veröffentlichten Izvestia-Umfrage erwarteten die Teilnehmer bis zum Jahresende sogar nur noch einen Rückgang der Inflationsrate auf 6,5 Prozent.

10 der 16 Teilnehmer der Reuters-Umfrage gehen davon aus, dass die Zentralbank ihren Leitzins am 26. Juli weiter von 16 auf 18 Prozent erhöht. Drei Teilnehmer erwarten eine Erhöhung auf 17,5 Prozent, die restlichen drei auf 17,0 Prozent. Am Jahresende 2024 wird der Leitzins nach Einschätzung der Analysten 17,75 Prozent betragen. Bei der letzten Umfrage hatten sie noch mit 16 Prozent gerechnet.

UniCredit erwartet einen relativ raschen Rückgang von Inflation und Zinsen

Mit einem deutlich rascheren Rückgang von Inflation und Zinsen als die von Reuters befragten Analysten rechnet Artem Arkhipov, Russland-Experte der Mailänder Großbank UniCredit.

In der vierteljährlich veröffentlichten UniCredit-Analyse zur Entwicklung der Volkswirtschaften in Mittel- und Osteuropa („CEE Quarterly“), erwartet Arkhipov bis zum Jahresende 2024 einen Rückgang der Inflationsrate in Russland auf 5,4 Prozent. Er geht davon aus, dass die russische Zentralbank bis Ende 2025 die von ihr angestrebte Inflationsrate von 4,0 Prozent erreichen wird (siehe rote Linie in der folgenden Abbildung).

Arkhipov erwartet, dass die Zentralbank ihren Leitzins trotz des beschleunigten Preisanstiegs nicht weiter erhöht, sondern bis zum Jahresende 2024 bei 16 Prozent hält. Bis Ende 2025 werde sie den Leitzins voraussichtlich auf 12 Prozent senken (siehe schwarze Linie).

Inflations- und Leitzinsprognose der UniCredit

UniCredit: CEE Quarterly (3Q24); 26.06.24; bei Bank Austria in Deutsch

Im Jahresdurchschnitt 2024 wird der Anstieg der Verbraucherpreise in Russland laut  UniCredit mit 7,0 Prozent merklich höher sein als 2023 (+5,9 Prozent).

CMASF: Die Inflation zog im Juni weiter an, aber auch viele „positive“ Trends

Das Moskauer „Zentrum für makro-ökonomische Analyse und kurzfristige Prognosen“ (CMASF) konstatiert in seinen am 01. Juli veröffentlichten „Analysen gesamtwirtschaftlicher Trends“, dass die Inflationsrate zuletzt weiter gestiegen ist.

Als eine positive Entwicklung in der russischen Wirtschaft nennt das CMASF das „intensive Wachstum“ der russischen Industrie. Den saisonbereinigten Anstieg der Produktion der Industrie im Mai gegenüber April schätzt das CMASF auf 1,4 Prozent. Allerdings konzentriere sich das Wachstum der Industrie auf einen „eher kleinen Bereich“ von Branchen. Den Hauptbeitrag zum Wachstum von 1,4 Prozent gegenüber dem Vormonat habe die Steigerung der Produktion von Metallprodukten gestellt (0,56 Prozentpunkte). Der zweitstärkste Beitrag sei vom Bergbau gekommen. Auch die Produktion von Erdölprodukten sei gesteigert worden.

Das Wachstum der Produktion von Konsumgütern in Russland sei jedoch „langsam“, obwohl die Konsumausgaben bei sehr stark steigenden Reallöhnen und Realeinkommen der Bevölkerung „rasant“ gestiegen seien. Vor dem Hintergrund der wachsenden Nachfrage der Verbraucher bei einer nur langsam steigenden Produktion von Konsumgütern in Russland hätten die Importe zugenommen.

Als weitere positive Entwicklungen nennt das CMASF unter anderem:

  • Die Zahl der begonnenen Bauprojekte nimmt weiter zu
  • Das Wachstum der Pkw-Verkäufe hält an
  • Die Verkäufe leichter Nutzfahrzeuge steigen rasant, was auf eine günstige Entwicklung kleiner Unternehmen hindeutet
  • Die Arbeitslosenquote sinkt, die Beschäftigung beginnt wieder zu wachsen
  • Der Staatshaushalt war im ersten Quartal ausgeglichen
  • Die Exporterlöse haben sich stetig stabilisiert

Das CMASF macht außerdem darauf aufmerksam, dass die Anlageinvestitionen im ersten Quartal 2024 im Vergleich zum vierten Quartal 2023 saisonbereinigt stark zunahmen (+4,7 %). Nach Einschätzung des CMASF ist allerdings davon auszugehen, dass die hohe Investitionsdynamik sehr stark mit der Herstellung militärischer Produkte zusammenhängt (siehe auch Kommersant-Bericht).

Rosstat: Die Industrieproduktion stieg im Mai gegenüber April um 2,0 Prozent

Laut ersten Berechnungen des staatlichen Statistikamtes Rosstat ist die russische Industrieproduktion im Mai gegenüber April saison- und kalenderbereinigt sogar um 2,0 Prozent gestiegen (siehe blaue Linie in der folgenden Abbildung). Ihr Anstieg wäre damit noch stärker gewesen als das CMASF schätzt (+ 1,4 Prozent).

Index der Industrieproduktion

(Monatsdurchschnitt 2021=100)

rote Linie: unbereinigte Werte; blaue Linie: saison- und kalenderbereinigt, graue Linie: Trend

Rosstat:Industrieproduktion im Mai (mit Chart); mit Tabelle; 26.06.24 

Regierung: In den ersten fünf Monaten war das BIP 5,0 Prozent höher als im Vorjahr

Am 03. Juli veröffentlichte das Statistikamt Rosstat weitere wichtige Konjunkturdaten für Mai, unter anderem zur Entwicklung von Verbrauch und Einkommen.

Das reale Wachstum der Einzelhandelsumsätze schwächte sich im Vorjahresvergleich im Mai zwar weiter ab, erreichte aber noch 7,5 Prozent (Trading Economics Chart). In den ersten fünf Monaten war der reale Einzelhandelsumsatz 9,3 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum.

Die Reallöhne waren im April 8,5 Prozent höher als ein Jahr zuvor (Trading Economics Chart). In den ersten vier Monaten übertrafen die Reallöhne ihr Vorjahresniveau um 10,5 Prozent.

Die Arbeitslosenquote stagnierte im Mai auf dem im April erreichten historischen Tief von 2,6 Prozent (Trading Economics Chart).

Der von Rosstat errechnete Index der Produktion in den sogenannten „Basis-Branchen“ war im Mai 6,5 Prozent höher als vor einem Jahr. Im Zeitraum Januar bis Mai übertraf er sein Vorjahresniveau um 6,4 Prozent. Rosstat berücksichtigt in diesem Index die Produktion in den Bereichen Landwirtschaft, Industrie, Bauwirtschaft, Warentransport, Einzelhandel und Großhandel (Finmarket.ru).

Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion war im Mai laut ersten Berechnungen des russischen Wirtschaftsministeriums 4,5 Prozent höher als vor einem Jahr. Im Vergleich zum Vormonat April ist das reale Bruttoinlandsprodukt nach Schätzung des Ministeriums um 1,9 Prozent gestiegen. In den ersten fünf Monaten wuchs die russische Wirtschaft laut dem Ministerium im Vorjahresvergleich um 5,0 Prozent (Finmarket.ru).

Das wiiw sieht Russlands Kriegswirtschaft „am Zenit“

Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche veröffentlichte am 02. Juli seine „Sommerprognose“ zur Entwicklung der Volkswirtschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Seine Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft erhöhte das wiiw auf 3,2 Prozent.

Die Presse: Russlands Wirtschaft wächst kräftiger als erwartet, 02.07.24

Zur aktuellen Konjunkturentwicklung in Russland meint das Institut in der Pressemitteilung:

„Russlands Wirtschaft boomt, operiert aber zunehmend an der Kapazitätsgrenze. Gegenüber der Frühjahrsprognose hebt das wiiw seine Konjunkturprognose für 2024 um 0,4 Prozentpunkte auf 3,2% an. Das Wachstum dürfte damit fast so hoch ausfallen wie im vergangenen Jahr (3,6%).

Die enormen staatlichen Ausgaben für den Krieg – rund ein Drittel des föderalen Budgets oder 6% des BIP – befeuern die Konjunktur und kommen auch vielen anderen Sektoren zugute. Der gravierende Mangel an Arbeitskräften durch den Fronteinsatz hunderttausender Männer und Emigration ins Ausland treibt die Löhne und den privaten Konsum. Die Bauwirtschaft hat massiv vom Ausbau der Militär- sowie der Transport- und Logistikinfrastruktur Richtung Asien profitiert. Dazu kommen sehr hohe Löhne für Frontsoldaten und Entschädigungen an Kriegsversehrte und Hinterbliebene von Gefallenen, die zusätzliches Geld in die Wirtschaft pumpen.

„Das führt zu einer Umverteilung von oben nach unten, was leider auch die Sympathien für den Krieg in der Bevölkerung fördert“, sagt Vasily Astrov, der auch Russland-Experte des wiiw ist.“

Zur Wirksamkeit der Sanktionen gegenüber Drittstaaten merkt das wiiw an:

„Die in Aussicht gestellten US-Sanktionen gegen Banken in Drittstaaten wie China, der Türkei oder den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Russland bisher bei der Umgehung der westlichen Sanktionen geholfen haben, zeigen zunehmend Wirkung. So sanken beispielsweise die russischen Warenimporte aus China im März und April des laufenden Jahres massiv.

„Vor allem bei Dual-Use-Gütern, also Produkten, die sowohl zivil als auch militärisch nutzbar sind – beispielsweise Mikrochips –, war der Einbruch dramatisch“, konstatiert Astrov, schränkt aber ein: „Letztlich werden sich auch hier wieder Wege finden, diese Sanktionen zu umgehen, allerdings verteuern und erschweren sie für Russland die Beschaffung der so wichtigen Hightech-Komponenten aus dem Westen.“

Die Prognosen für Russlands Wachstum ab 2025 klaffen noch weit auseinander

Das Wachstum der russischen Wirtschaft in den Jahren 2025 und 2026 sieht das wiiw wegen des akuten Arbeitskräftemangels und der hohen Zinsen auf jeweils 2,5 Prozent begrenzt. UniCredit erwartet 2025 einen noch deutlich stärkeren Rückgang des Wachstums. Die Großbank rechnet damit, dass sich die Wachstumsrate im nächsten Jahr mit +1,6 Prozent fast halbiert. Die Eurasische Entwicklungsbank nimmt sogar an, dass Russland 2025 nur noch ein Wirtschaftswachstum von 1,1 Prozent erreicht.

BIP-Prognosen 2024 bis 2026

Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

UniCredit: 2024 verlangsamt sich das Wachstum nur wenig auf 3,0 Prozent

2023 ist laut UniCredit der Private Verbrauch in Russland gegenüber dem Vorjahr um 6,5 Prozent gestiegen. Der Staatsverbrauch wuchs um 7,0 Prozent.

2024 erwartet UniCredit, dass sich das Wachstum des Privaten Verbrauchs auf +3,9 Prozent abschwächt. Das Wachstum des Staatsverbrauchs werde sich mit +3,0 Prozent mehr als halbieren.

Der Beitrag des gesamten Verbrauchs zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum wird laut UniCredit deswegen von gut 3 Prozentpunkten im Jahr 2023 auf gut 2 Prozentpunkte im Jahr 2024 sinken (hellgrauer Säulenteil in der folgenden Abbildung).

 Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahr in Prozent

Beiträge der Verwendungsbereiche des BIP in Prozentpunkten

UniCredit: CEE Quarterly (3Q24); 26.06.24; bei Bank Austria Mitte Juli in Deutsch

Das Wachstum der Investitionen wird nach Einschätzung von UniCredit im Jahr 2024 mit + 8,9 Prozent noch etwas stärker sein als 2023 (+ 8,8 Prozent). Der Wachstumsbeitrag der Investitionen wird laut UniCredit 2024 deswegen mit gut 2 Prozentpunkten noch etwas höher sein als 2023 (schwarzer Säulenteil).

Einen weiterhin negativen Wachstumsbeitrag erwartet UniCredit im Jahr 2024 vom Netto-Export (dunkelgrauer Säulenabschnitt). Der Netto-Export dürfte das gesamtwirtschaftliche Wachstum 2024 aber nur noch gut halb so stark dämpfen wie im Jahr 2023.

2025 halbiert sich das gesamtwirtschaftliche Wachstum fast auf 1,6 Prozent

Die UniCredit-Prognose, dass sich das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 3,0 Prozent im laufenden Jahr auf nur noch 1,6 Prozent im Jahr 2025 abschwächen dürfte, entspricht weitgehend dem Ergebnis der Analysten-Umfrage der russischen Zentralbank, die Ende Mai veröffentlicht wurde (BIP-Wachstum 2024: +2,9 %; 2025: + 1,7 %).

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Titelbild
Gebäude der Russischen Zentralbank. Quelle: Popova Valeriya / Shutterstock