Russland: Außenhandel und Staatsverbrauch dämpfen die Corona-Krise

Die Alfa Bank verglich sie mit den Krisen 2009 und 2015

Anfang Oktober bestätigte das russische Statistikamt in einer weiteren Schätzung, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion im zweiten Quartal 2020 gegenüber dem zweiten Quartal 2019 um 8,0 Prozent gesunken ist. Gleichzeitig veröffentlichte Rosstat erste Angaben zur Entwicklung der Verwendung des Bruttoinlandsprodukts.

Sie geben zum Beispiel Hinweise zu folgenden Fragen: Wie stark ist der private Verbrauch wegen der Schließung von Handels- und Dienstleistungsunternehmen gesunken? Hat auch der Staat seinen Verbrauch eingeschränkt? Haben die Unternehmen weniger investiert? Wurde der Außenhandel stark beeinträchtigt? Sind die Ausfuhr und die Einfuhr gesunken, zum Beispiel wegen der Störung internationaler Lieferketten? Die Alfa Bank zog einen ersten Vergleich mit früheren Rezessionen der russischen Wirtschaft. Er macht einige Besonderheiten der aktuellen Krise deutlich.

Verwendung des Bruttoinlandsprodukts im zweiten Quartal
der Krisenjahre 2009, 2015 und 2020
Reale Veränderungen gegenüber dem Vorjahresquartal in Prozent

  „Finanzkrise“ 2. Vj. 2009 „Ölpreiskrise“ 2. Vj. 2015 „Corona-Krise“ 2. Vj. 2020
Bruttoinlandsprodukt – 11,2 – 3,1 – 8,0
Privater Verbrauch – 5,3 – 9,4 – 22,2
Staatsverbrauch – 0,6 – 3,6 +1,6
Anlageinvestitionen – 19,4 – 11,0 – 11,7
Export – 9,3 + 1,7 + 0,3
Import – 38,7 – 29,2 – 22,2

Quellen: Natalia Orlova, Anna Kiyutsevskaya; Alfa Bank: The latest crisis turned out to be less painful compared to the 2009 crisis; finam.ru; 07.10.2020; Rosstat: Verwendung des Bruttoinlandsprodukts; vierteljährliche Daten; 02.10.2020

Die Corona-Krise traf insbesondere den privaten Verbrauch

Die Rosstat-Statistik für das zweite Quartal 2020 zeigt insbesondere folgende Ergebnisse:

  • Der Verbrauch der privaten Haushalte sank mit Abstand am stärksten. Er war 22,2 Prozent niedriger als vor einem Jahr.
  • Die Anlageinvestitionen wurden nur halb so stark verringert (- 11,7 Prozent).
  • Der Staatsverbrauch wuchs um 1,6 Prozent. Die Regierung erhöhte ihre Ausgaben, um die Produktion in der Krise zu stützen.

Stabilisiert wurde die gesamtwirtschaftliche Nachfrage in der Corona-Krise auch von der Entwicklung des Außenhandels. Die Ausfuhr stieg um 0,3 Prozent während die Einfuhr um 22,2 Prozent eingeschränkt wurde. Damit lieferte die Veränderung des „Außenbeitrags“ einen positiven Wachstumsbeitrag.

Russlands Rezession in der Finanzkrise 2009 war deutlich schärfer

Einen Vergleich der „Corona-Krise“ mit früheren Rezessionen erleichtert auch die folgende Abbildung, die Tatiana Evdokimova (frühere Chef-Volkswirtin für Russland der Nordea Bank) twitterte. Sie zeigt die langfristige Entwicklung der Verwendung des Bruttoinlandsprodukts seit 2008.

Die rote Linie zeigt die Veränderung des Bruttoinlandsprodukts gegenüber dem Vorjahresquartal. Sie lässt erkennen, wie stark die gesamtwirtschaftliche Produktion in der weltweiten Finanzkrise im Jahr 2009, nach dem Einbruch der Ölpreise im Jahr 2015 und in der aktuellen Corona-Krise gesunken ist. Der Einbruch des Bruttoinlandsprodukts während der Finanzkrise im zweiten Quartal 2009 war noch merklich stärker (- 11,2 Prozent) als jetzt in der Corona-Krise (- 8,0 Prozent). Einen deutlichen Rückgang des BIP (- 3,1 Prozent) gab es auch im zweiten Quartal 2015 nach dem Einbruch der Ölpreise.

Vierteljährliche Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts
Veränderung gegenüber Vorjahr in Prozent (rote Linie)

Wachstumsbeiträge der Verwendungsbereiche Netto-Export, Investitionen, Lagerveränderung und Verbrauch in Prozentpunkten

Quelle: Tatiana Evdokimova: Twitter-Meldung vom 02.10.2020; Bildadresse

Die Abbildung verdeutlicht, dass der aktuelle Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 8 Prozent vor allem auf die Abnahme des Verbrauchs (grauer Säulenabschnitt) zurückzuführen ist. Der negative Wachstumsbeitrag der Investitionen (grüner Abschnitt) war weitaus geringer. Positive Wachstumsbeiträge ergaben sich aus dem Netto-Export (dunkelblauer Abschnitt) und den Lagerveränderungen (hellblauer Abschnitt).

Alfa Bank: Corona verursachte einen „Konsum-Schock“ bei sinkenden Einkommen und steigender Arbeitslosigkeit

Natalia Orlova, Chef-Volkswirtin der Alfa Bank, hat mit ihrer Mitarbeiterin Anna Kiyutsevskaya die Verwendung des Bruttoinlandsprodukts in diesen drei Krisen näher verglichen. Sie kommen insbesondere zu folgenden Ergebnissen:

Dass der Private Verbrauch im zweiten Quartal 2020 besonders stark gesunken ist (- 22,2 Prozent), ist angesichts der plötzlichen Änderungen der Lebensgewohnheiten in der Corona-Krise keine Überraschung. Der „Konsumschock“ zeigte sich auch im Rückgang des realen Einzelhandelsumsatzes (- 16,0 Prozent) und im noch deutlich stärkeren Einbruch des realen Umsatzes mit Dienstleistungen (- 36,1 Prozent). Er war begleitet von einem Rückgang der verfügbaren Realeinkommen der privaten Haushalte um 8,0%.

Die Arbeitslosenquote stieg im Verlauf des Jahres 2020 von 4,6 Prozent auf 6,4 Prozent im August. Während der Finanzkrise 2009 war sie von 6,8 Prozent im vierten Quartal 2008 auf 9,2 Prozent im ersten Quartal 2009 und 8,4 Prozent im zweiten Quartal 2009 gestiegen.

Die russische Zentralbank hat zur Entwicklung im zweiten Quartal und im Juli und August in ihrem monatlichen Konjunkturbericht Ende September zahlreiche Tabellen und Abbildungen veröffentlicht (jetzt auch in englischer Übersetzung verfügbar).

Die Investitionen sanken deutlich weniger als in der Finanzkrise 2009

Die Anlageinvestitionen gingen in der Corona-Krise „nur“ um 11,7 Prozent zurück. In der Finanzkrise im zweiten Quartal 2009 waren sie hingegen noch deutlich stärker um 19,4 Prozent eingeschränkt worden.

Eine Erklärung für den relativ schwachen Rückgang der Investitionen in der Corona-Krise könnte laut Alfa Bank sein, dass das „Verarbeitende Gewerbe“ jetzt weniger gelitten hat als die Dienstleistungsunternehmen. Als mögliche Ursachen nennt die Alfa Bank auch staatliche Investitionen für den Wohnungsbau und den Ausbau der Infrastruktur. Ein Hinweis darauf ist, dass die Bauproduktion im zweiten Quartal 2020 im Vorjahresvergleich nur um 1,7% gesunken ist und die Regierung Infrastrukturprojekte in ihr Paket zur Krisenbekämpfung aufgenommen hat.

Zentralbank schätzte die Investitionsentwicklung bis August

Kurz vor der Veröffentlichung der ersten Rosstat-Schätzung, dass die Anlageinvestitionen im zweiten Quartal 11,7 Prozent niedriger waren als vor einem Jahr, veröffentlichte die russische Zentralbank Ende September in ihrem monatlichen Konjunkturbericht eigene Schätzungen zur Entwicklung der Anlageinvestitionen. Sie erwartet, dass sich der Rückgang der Anlageinvestitionen im Vergleich zum Vorjahresmonat im Juli auf 11,5 Prozent beschleunigte und im August auf 9,3 Prozent abnahm.

Indikatoren für die Investitionsaktivität
Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent;
gleitender 3-Monats-Durchschnitt

Zentralbank: Monatsbericht: Economy: Facts, Assessments and Comments; russ.+englisch; Chart auf Seite 7; 28.09.2020

Als Indikatoren für die Entwicklung der Anlageinvestitionen (rote Linie in der Abbildung) verwendet die Zentralbank die Entwicklung des Transports von Baumaterialien per Eisenbahn (grüne Linie), die Produktion von Investitionsgütern (gelbe Linie) und die Einfuhr von Maschinen und Ausrüstungen aus Ländern außerhalb der „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (blaue Linie; rechte Skala)

Der Export hielt sich überraschend gut – dank der Nachfrage aus China

Dass Russlands Ausfuhr im zweiten Quartal 2020 im Vorjahresvergleich um 0,3 Prozent stieg, war von der Alfa Bank nicht erwartet worden. Angesichts der Störungen der Produktionsketten durch die Quarantänemaßnahmen und der Einschränkungen der Ölexporte durch die Vereinbarungen mit der OPEC+ rechnete die Alfa Bank mit einem ähnlich starken Rückgang der Ausfuhr wie in der Finanzkrise 2009 (rund – 9 Prozent).

Die Alfa Bank führt die überraschend gute Entwicklung des Exports hauptsächlich auf den Ausbau des Handels mit China zurück. Die chinesische Industrie habe nur im ersten Quartal eine Rezession verzeichnet. Seitdem wachse ihre Produktion im Jahresvergleich um rund 5 Prozent. So sei die Nachfrage nach russischen Industriegütern gestützt worden. Der russische Außenhandel verlagere sich nach Osten: Der Anteil des russischen Handels mit China habe einen neuen Höchststand erreicht.

„Corona-Rezession“ wird nur rund halb so tief wie die Rezession 2009

Im Hinblick auf die voraussichtliche Entwicklung im gesamten Jahr 2020 weist die Alfa Bank darauf hin, dass für dieses Jahr von einem Rückgang des BIP um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr ausgegangen wird. Einen Rückgang um 4 Prozent lässt auch eine Anfang September veröffentliche Interfax-Umfrage erwarten. 2009 ist die russische Wirtschaftsleistung mit einem Rückgang um 7,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr hingegen fast doppelt so stark geschrumpft.

Die russische Regierung geht in ihrer Mitte September veröffentlichten Prognose jetzt für 2020 von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 3,9 Prozent aus. Das Ergebnis der Anfang Oktober veröffentlichten Umfrage des Research-Unternehmens FocusEconomics (weitgehend bei Analysten außerhalb Russlands) näherte sich der Einschätzung der Regierung deutlich. Die Analysten erwarten jetzt in diesem Jahr nicht mehr einen Rückgang des BIP um 5,0 Prozent, sondern nur noch um 4,6 Prozent.

BOFIT: Überall in Europa sank das BIP stärker als in Russland

Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank, BOFIT, macht in seinem jüngsten Wochenbericht darauf aufmerksam, dass das Bruttoinlandsprodukt in Russland im ersten Halbjahr 2020 gegenüber dem Vorjahr nur um 4,1 Prozent gesunken ist. So wenig sei die Produktion in keinem anderen europäischen Land zurückgegangen. Sogar in Finnland und Litauen sei die Wirtschaftsleistung im ersten Halbjahr um mehr als 5 Prozent gesunken.

BOFIT weist gleichzeitig darauf hin, dass Russlands reales Bruttoinlandsprodukt saisonbereinigt bereits seit dem zweiten Quartal 2019 sinkt. Dazu veröffentlichte BOFIT folgende Abbildung, die die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in Preisen von 2016 im Vergleich mit der Entwicklung des realen privaten Verbrauchs in Preisen von 2016 zeigt.

Das Bruttoinlandsprodukt (blaue Linie, linke Skala) ist im zweiten Quartal 2020 etwa auf das vor sieben Jahren im zweiten Quartal 2013 erreichte Niveau zurückgefallen. Der Einbruch des privaten Verbrauchs (rote Linie, rechte Skala) war im zweiten Quartal 2020 so stark, dass sogar das Anfang 2011 erreichte Niveau unterschritten wurde. Auch bei der im internationalen Vergleich relativ schwachen Rezession wird Russlands Wirtschaft 2020 also um viele Jahre zurückgeworfen, weil das Bruttoinlandjahr seit 2014 nur wenig gestiegen ist.

The coronavirus epidemic caused private consumption in Russia to plummet to levels not seen in over a decade
(seasonally-adjusted GDP in billions of 2016 rubles)


BOFIT, Bank of Finland: Covid-19 subdues private consumption in Russia; BOFIT Wekkly, 09.10.2020
Rosstat-Tabelle: Verwendung des Bruttoinlandsprodukts; vierteljährlich in Preisen von 2016; saisonbereinigt; 02.10.2020

Quellen und Lesetipps:

Ostexperte.de-Artikel zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik in Russland von Klaus Dormann:

Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal nach Verwendungsbereichen: – 8,0 Prozent

Außenwirtschaftliche Entwicklung: Zahlungsbilanz und Wechselkurs

Verbraucherpreisanstieg zog im September gegenüber dem Vorjahr auf 3,7 Prozent an

Einkaufsmanager-Indizes September: Verarbeitendes Gewerbe sank unter 50 Punkte

Periodisch erscheinende Berichte zu Konjunktur und Wirtschaftspolitik

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