Kolumne: Manches kann nur der Markt richten

Ost-Ausschuss-Kolumne über Wirtschaft und Politik

Der „Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de. Heute wirft Autor Jens Böhlmann einen Blick auf russische Regelungswut, den deutschen Mittelstand und die Grundlage alles Wachstums.

Mittelstand ist das Herzstück der Wirtschaft

99,6 Prozent! Das Erstaunen im russischen Publikum ist groß angesichts der Zahlen für die deutsche Wirtschaft. Denn genau dieser Anteil der deutschen Unternehmen sind familiengeführt oder Mittelständler. Sie sind, und man kann es nicht oft genug betonen, die Innovationsträger, die „Arbeitsplätzeschaffer“, die Ausbilder, die Werteerzeuger und Steuerzahler im Inland, die Exporteure. Kurz: das Herzstück der Deutschen Wirtschaft und der Garant für anhaltende Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand. Der Präsident der russischen Mittelstandsvereinigung Opora Sergej Borisov schaut mit Wehmut auf diese Zahlen und mit einigem Bedauern auf die Situation im eigenen Land. Denn mit etwas Phantasie machen russische KMU gerade ein Viertel der Unternehmen und der Wirtschaftsleistung aus. „Der Druck der staatlichen Unternehmen auf die russischen Mittelständler ist enorm“, konstatiert er. Industriellen Mittelstand muss man mit der Lupe suchen.

Compliance als Grundvoraussetzung

Und genau das müssen internationale Produzenten auch tun, um die Lokalisierungsvorgaben der Regierung zu erfüllen. Hier schließt sich der (Teufels)-Kreis: Für die Teilnahme an Ausschreibungen wird in immer mehr Staatsunternehmen eine Produktion in Russland gefordert und nicht selten das Label „Made in Russia“. Das erhält man allerdings nur, mit einem Local-Content-Anteil, der in fast allen Industrie-Bereichen bei über 70 Prozent liegt. Ungefähr genauso hoch ist der Anteil der Staatsunternehmen oder der Unternehmen mit mehrheitlich staatlicher Beteiligung. Da bleibt kaum Raum für die Entwicklung qualitativ guter und wettbewerbsfähiger Mittelständler. Und wenn es sie gibt, sind sie meist so gut ausgelastet, dass ihr Interesse an einer Zusammenarbeit mit ausländischen Firmen gering ist. Zumal, wenn die Compliance, permanente Qualitätskontrollen und Liefertreue bei gleichem Preis fordern.

Unsicherheit ist der Tod unternehmerischen Handelns

Wenn man die Unternehmen nicht im eigenen Land entwickeln kann, dann muss der Markt eben attraktiv genug für ausländische Mittelständler und Lieferanten gemacht werden. Im Prinzip kein schlechter Gedanke. Das setzt allerdings voraus, dass man die Rahmenbedingungen auf die Bedürfnisse der Umworbenen ausrichtet. Extra dafür wurde Anfang September dieses Jahres ein Sonderinvestitionsprogramm, der sogenannte SPIC 2.0, beschlossen. Eigentlich hätte man schon hellhörig werden müssen, als bei der Vorstellung die Rede davon war, dass die Regelungen noch nicht abschließend ausgearbeitet sind. Welchen Sinn kann ein Gesetz haben, dessen Autoren sich nicht sicher sind, ob es umsetzbar ist oder in dieser Fassung jemals gültig sein wird? Eine Investitionsentscheidung wird man auf diese Weise nicht befördern. Unsicherheit ist der Tod unternehmerischen Handelns.

Wer legt fest, was eine Innovation ist?

Was steht drin? Eine Forderung, die seit der Einführung derartiger Sonderinvestitionsverträge bestand, die Abschaffung einer Mindestsumme, ist komplett gestrichen worden. Das sind gute Nachrichten für den deutschen Mittelstand, der in aller Regel keine zweistelligen Millionensummen – egal in welchem Land – investiert oder investieren kann. Die Höhe der Investition wird durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Den potentiell Interessierten winken zahlreiche steuerliche Erleichterungen und eine längere Vertragslaufzeit. Dann allerdings hat die Kontroll- und Regelungswut der russischen Gesetzgeber wieder in vollem Umfang zugeschlagen. Eine Grundvoraussetzung zum Abschluss einer solchen Vereinbarung ist ein Technologietransfer. Dafür kommen nach russischer Vorstellung nur solche Produkte in Frage, die hoch innovativ und einzigartig sind. Das gilt für eine Vielzahl deutscher Hersteller. Es ist ihr Wettbewerbsvorteil, besser und innovativer als die Konkurrenz zu sein und dieses Wissen auch zu sichern und zu bewahren.

Kontroll- und Regelungswut

Spannend ist, wie man prüfen will, ob das lokal zu fertigende Produkt tatsächlich state of the art ist. Dafür soll ein Gutachter eingesetzt werden, der feststellt, ob es sich um eine moderne, einzigartige und auch in Zukunft noch innovative Technologie handelt. Wenn es solche Experten tatsächlich in ausreichender Zahl in Russland gäbe, wieso braucht man dann noch Unternehmen aus dem Ausland? Ich unterstelle einmal, dass es trotzdem das ein oder andere Unternehmen gibt, das unter den geänderten Bedingungen den russischen Markt für sich als perspektivisch tragfähig einschätzt. Allerdings werden diese Pläne sofort wieder verworfen, wenn die Bedingung für den Markteintritt die Offenlegung der Technologie ist. Vollkommen absurd ist dann die Forderung eine Ausschreibung zu durchlaufen, in der man die Pläne für das Engagement in Russland komplett offenlegen muss, an der sich aber auch die Wettbewerber – ohne die Karten aufdecken zu müssen – beteiligen und sie gewinnen können. So schafft man künstliche Monopole. Regeln sind gut, Überregulierung schlecht. Wer das beste Produkt hat, darüber entscheiden am Ende der Verbraucher, der Markt und der Wettbewerb.

Wettbewerb im eigenen Land fördern

Bei allem Verständnis für den Versuch, wirtschaftliche Entwicklung zu planen und zu regulieren und neoliberale Auswüchse zu verhindern, sind solche Gesetze schlicht kontraproduktiv. Sicher hat sich die Theorie des freien Spiels der Marktkräfte selbst dekonstruiert, aber wenn man Unternehmertum fördern will, dann braucht es eher weniger als mehr Bürokratie. Der große Vorteil gerade des deutschen Wirtschaftsmodells besteht in der Konkurrenz schon im eigenen Land, und hier setzt sich durch, wer das perfekteste Gesamtpaket aus Innovationsstärke, Qualität, Service, Flexibilität und Preis zu bieten hat. Wer es in Deutschland schafft, der ist meist auch im Weltmarkt gut vertreten. Mittlerweile ist jedes zweite deutsche Unternehmen im Ausland engagiert. Das bedeutet bei 3,6 Millionen Firmen, dass 1,8 Millionen auch auf anderen Märkten aktiv sind. Investitionsentscheidungen in der Industrie – egal ob im In- oder im Ausland – sind immer strategisch geplant und nie auf der Grundlage kurzfristiger steuerlicher oder monetärer Vorteile. Nur wenn die Rahmenbedingungen langfristig stabil und der Markt offen ist, werden sich hinreichend viele Unternehmer engagieren.

Über 50 Prozent der Jugendlichen wollen das Land verlassen

Oder Menschen überhaupt darüber nachdenken, den Weg in die Selbständigkeit zu wählen. Elon Musks Begründung zum Bau einer Gigafactory in Deutschland bestand unter anderem im hohen technologischen Niveau der Industrie und der Ingenieurskunst. Beides kann man dauerhaft nur garantieren, wenn sich der Standort mit den Besten aus aller Welt messen und bestehen kann. Das ist ein Grund, warum es Spezialisten aus aller Welt nach Deutschland zieht, darunter nicht wenige aus Russland. Dazu passt die Nachricht, die das Levada-Institut vor einigen Tagen veröffentlicht hat: Über 20 Prozent der russischen Bevölkerung spielen mit dem Gedanken, dauerhaft im Ausland zu leben. Besonders bemerkenswert sind jedoch die 53 Prozent der 18- bis 24jährigen, die darüber nachdenken, Russland den Rücken zu kehren. Denn sie sind die Zukunft des Landes, und wären die Grundlage für die Entwicklung eines leistungsfähigen Mittelstandes in Russland. Die Gründe sind dabei so einfach wie nachvollziehbar: eine Zukunft für die Kinder, die wirtschaftliche Stagnation in Russland und die bessere medizinische Versorgung im Ausland.

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