Milchige Vorschriften

Russische Milchproduzenten und Behörden streiten über neue Zertifikate und unklare Vorschriften

Die russische Milchindustrie droht mit Lieferengpässen und Produktionsstopps und schreibt einen offenen Brief an die Regierung. Der Streitpunkt: zusätzliche Veterinärzertifikate, die laut einer Vorschrift angeblich schon verpflichtend sind. Das Landwirtschaftsministerium und die zuständige Aufsichtsbehörde wehren sich: die Produzenten hätten die Vorschrift nicht richtig gelesen, die Zertifikate seien erst ab 2018 verpflichtend und außerdem sei ein Gesetz der Vorschrift übergeordnet. 

Ein Streit, so undurchsichtig wie die Milch, um die er sich dreht. Er zeigt auch die Probleme mit unklaren Vorschriften und Gesetzen, wie sie in Russland derzeit leider oft vorkommen. 

Die russischen Milchproduzenten schäumten am 9. März. Die Milchproduktion in Russland müsse eigentlich eingestellt werden, weil man einer neuen Anordnung nicht entsprechen könne, die schon seit 1. März gelte, sagten sie. Die Anordnung verlange zusätzliche Veterinärsicherheits-Dokumente für jede Lieferung Milch, die zum Trinken verpackt sei.

Mehr Bürokratie, hohe Kosten und Preiserhöhungen von bis zu 10 Prozent heiße das, klagten die Hersteller. Die Lieferungen an die Läden des Landes müssten gestoppt werden, weil man der Anordnung nicht entsprechen könne. Es drohten Lieferengpässe, wenn die russische Regierung besagte Vorschrift Nummer 648 nicht zurücknehme.

Der Verband Russischer Milchproduzenten (Sojusmoloko) schrieb deshalb einen offenen Brief an Präsidialverwaltung, Vize-Premierminister und Vize-Wirtschaftsminister.

Behörde: “Nicht richtig gelesen”

Das Landwirtschaftsministerium reagierte und stellte klar: Das Veterinärzertifikat für trinkfertige Produkte gelte nicht schon wie behauptet ab 1. März. Erst ab dem 1. Januar 2018 seien entsprechende elektronische Dokumente verpflichtend, teilte der Pressedienst des Ministeriums laut Interfax mit.

“Die Anordnung wurde nicht richtig gelesen”, stellte der stellvertretende Leiter der zuständigen Aufsichtsbehörde Rosselchosnadsor, Nikolai Wlassow, den Verband sogar bloß. “Das Datum 1. März bezieht sich nur auf die Produktliste, die einer elektronischen Veterinärbescheinigung unterliegen oder ihr ab dem 1. Januar 2018 unterliegen werden.“

Der Verband entgegnete wiederum. Man habe sehr wohl richtig gelesen. Einzelhandelsketten verlangten zudem bereits die Dokumente.

In einer erneuten Stellungnahme folgte dann die Aufklärung: Zwar gebe es besagte Verordnung, jedoch stehe im Gesetz “Über die Veterinärmedizin” direkt geschrieben: wenn für die Ware eine Zertifizierung bisher noch nicht verpflichtend sei, dann werde bis 2018 dieses Verfahren auf freiwilliger Basis erfolgen. Und da das Bundesgesetz Vorrang vor der Verordnung des Ministeriums habe, müsse eigentlich alles klar sein, heißt es in der Rossijskaja Gazeta, dem Amtsblatt der russischen Regierung.

Wie klar das war, zeigt der offene Brief. Zumindest herrscht jetzt mehr Klarheit.

Der Streit um die Milch lässt beide Seiten nicht gut aussehen

Gut sieht bei dem Konflikt keine der Seiten aus. Die offiziellen Stellen müssen sich fragen lassen, wieso es mehrere sich widersprechende oder zumindest missverständliche Gesetze und Verordnungen dazu gibt und wieso diese unzureichend kommuniziert wurden. Und die Milchhersteller müssen sich fragen lassen, wieso sie nicht eher für Klärung sorgten, erst so spät von der Verordnung erfuhren.

Widersprüchliche Vorschriften und Gesetze

Ersteres ist in Russland leider ein bekanntes Problem. Beispiele für unklare, widersprüchliche Vorschriften und Gesetze, die es den Unternehmen erschweren, dem Gesetz zu entsprechen, gibt es zuhauf.

Hier lesen Sie zwei Beispiele:

DatenspeicherungsgesetzLeiharbeitsgesetz
Die Änderung des Gesetzes “über die persönlichen Daten” von September 2015 ließ bis zum Inkrafttreten die Unternehmen im Unklaren, welche Daten wie auf Servern in Russland gespeichert werden müssen.
Das zum Jahresbeginn in Kraft getretene Leiharbeitsgesetz verbietet Leiharbeit und lässt sie nur in saisonalen oder temporären Ausnahmesituationen und für einen Zeitraum von neun Monaten zu. Wie aber diese Ausnahmesituation nachgewiesen werden können, ist bislang unklar.

Eine Lösungsmöglichkeit für derartige Schwierigkeiten hat sich durch den vorliegenden Fall gezeigt. Es hilft meist, geschlossen, öffentlich und in Verbänden auf offizielle Stellen zuzugehen. Auch ein Aufzeigen der Folgen hat im vorliegenden Fall für mehr Klarheit gesorgt. Am wichtigsten ist aber wohl, in engem Kontakt mit den zuständigen Behörden und Offiziellen zu stehen – auch, wenn das natürlich nicht immer möglich ist.

Zufälliger Verordnungsfund

Die späte Reaktion der Milchhersteller hat wohl damit zu tun, dass sie die Anordnung überrumpelt hat. Laut Kommersant hätten die Milchhersteller davon erfahren, weil Angestellte des russischen Milchproduzentenverbandes in einer Datenbank von Regierungsdokumenten auf die Regelung gestoßen seien.

Es habe keine öffentliche Diskussion gegeben, die Verfahrensschritte seien nicht eingehalten worden, lauteten entsprechend die Vorwürfe. Das Ministerium weist das allerdings zurück. Alle Stufen seien ordnungsgemäß durchlaufen worden, Anmerkungen habe es keine gegeben.

Aus Sicht der Behörden wollen die Unternehmen mit ihren Protesten die Einführung der notwendigen Zertifikate verlangsamen.

Einführung elektronischer Dokumente soll für mehr Transparenz und weniger Palmöl sorgen

Im Mittelpunkt der Reformen, dessen Teil die Veterinärzertifikate sind, steht nämlich die Umstellung auf elektronische Dokumente. Damit soll mehr Transparenz auf den Milchmarkt gebracht werden, der sich mit Berichten über die Verwendung von Palmöl in Milchprodukten wie Käse oder sauerer Sahne in Verruf gebracht hatte. Die Lebensmittelaufsicht Rosselchodnadsor hatte vor kurzem verkündet, dass bis zu elf Prozent aller russischer Milchprodukte 2015 durch unzulässige Zutaten verfälscht seien.

„Sobald das System eingeführt wird, stellt sich heraus, wie viel Palmöl die Hersteller verwenden“, sagte Wlassow, der Chef von Rosselchosnadsor.