Kolumne: Von Chemie und Rahmenbedingungen

Ost-Ausschuss-Kolumne über Wirtschaft und Politik

Die deutsche Wirtschaft ist in Russland gut positioniert und investiert. Trotzdem verlassen Unternehmen den Markt. Diese bedauerliche Entwicklung ließe sich durch eine etwas andere Industriepolitik umkehren.

Firmen verlassen den Markt

Es galt bisher als Tabu unter deutschen Managern, einen eventuellen Rückzug aus Russland offen anzusprechen. Zu stark haben viele Firmen investiert, zu sensibel die Kommunikation nach außen, zu fatal das Signal. Fakt ist, die Zahl der deutschen Unternehmen in Russland geht seit Jahren kontinuierlich zurück, nur wenige neue kommen. Die meisten sind eher leise aus dem Markt verschwunden. Auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Beziehungen zählte das russische Finanzministerium etwa 6.500 Firmen mit deutscher Beteiligung. Heute sind es mit viel gutem Willen noch knapp 4.000, Tendenz fallend. Die neuerlich verschärften Lokalisierungsregeln, die ständige Auseinandersetzung mit den Behörden und die Benachteiligung gegenüber nationalen Anbietern hat mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das in einigen Fällen wirtschaftlich kaum noch zu vertreten ist. „Heute bewerten wir das politische Risiko in Russland höher als die Währungsschwankungen“, bringt es ein Automobilzulieferer, der seit vielen Jahren schon in Russland produziert, auf den Punkt. Er denkt über die Rückverlagerung seiner Produktion nach Europa nach. Und ist damit nicht allein.

Eigentlich ein idealer Investitionsstandort

Dabei könnte Russland eigentlich ein idealer Investitionsstandort sein. Die Kassen der meisten (Staats-)Unternehmen sind gut gefüllt. Der Staat als Investor ist kaum verschuldet und verfügt über erhebliche finanzielle Reserven. Die Zentralbank garantiert seit Jahren Stabilität. Die Infrastruktur ist vielerorts gut entwickelt worden. Um zum vielfach genutzten Transitkorridor der neuen Seidenstraße zu werden, muss sehr schnell noch mehr investiert, vor allem aber gebaut werden. Der Ausbildungsstand der Bevölkerung ist gut und selbst an wissenschaftlichen Einrichtungen für eine Kooperation im Bereich Forschung und Entwicklung herrscht kein Mangel. In den besonders nachgefragten MINT-Fächern sind russische Hochschulen und Universitäten immer noch gut aufgestellt. Dass der Bedarf an modernster Technik, Ausrüstung und Maschinen hoch ist, zeigen einerseits die aktuelle deutsche und die internationale Exportstatistik. Andererseits wurden im Rekordjahr 2012 vor allem Maschinen und Anlagen, Fahrzeuge, Spezialfahrzeuge, Baumaschinen, Medizintechnik, Elektronik und Elektrotechnik, Landmaschinen, kurz Hochtechnologie geliefert. Im Mai dieses Jahres sind die Ausfuhren um 55 Prozent, der Handelsumsatz um über 80 Prozent gestiegen! Und letztlich verstehen sich die Deutschen und die Russen im geschäftlichen Alltag gut. Davon hängt zwar keine Entscheidung ab, aber es ist ein Punkt, den beide Seiten immer wieder betonen. Die Chemie stimmt!

Zu hohe Erwartungen?

Was ist passiert? Die Frage zu beantworten, heißt in eben jenes Jahr 2012 zurückzuschauen. Dem Jahr, in dem Russland der WTO beigetreten ist. Der Handel brummte, die Erwartungen, vor allem auch der Automobilindustrie waren gigantisch. Nur noch ein Jahr, und Russland würde Deutschland als wichtigsten europäischen Automobilmarkt ablösen. Investoren planten für den russischen und die angrenzenden Märkte gigantische Produktionsanlagen, die heute oft nicht ausgelastet sind. Manche Unternehmen haben ihr Business-Modell angepasst und produzieren verstärkt für den Export – unter anderem in die EU. Aber auch damals schon gab es einen erbitterten Streit zwischen den Befürwortern einer strikt nationalen Entwicklung und den auf den Weltmarkt orientierten Firmen. Das erinnert ein wenig an den uralten Streit zwischen „Westlern“ und Slawophilen. Die Politik unterstützte die Öffnung hin zum Weltmarkt. Das meiste Geld wurde und wird durch den Export in die Staatskassen gespült – in Euro oder Dollar. Auch viele der großen russischen Staatsholdings sind international aufgestellt und an „westlichen“ Börsen notiert. Wirtschaftsminister war zu dieser Zeit der heutige Vizepremier Andrej Beloussov. Dieser Fraktion standen die Nachfolger sowjetischer Kombinate gegenüber, die meist auf den nationalen Markt orientiert, oft nicht konkurrenzfähig waren und sind, aber viele Menschen in Lohn und Brot bringen oder gleich ganze (Mono-)Städte am Leben erhalten. Für den sozialen Frieden im Land sind diese Firmen eigentlich unverzichtbar.

Deutschland immer noch Europas größter Automarkt

Und heute? 2020 wurden in Deutschland, trotz eines Absatzrückgangs um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr, knapp drei Millionen Autos zugelassen. In Russland waren es etwa 1,6 Millionen. Die Automobilbranche ist von den existierenden Friktionen sicher härter getroffen als andere Industrien, trotzdem ist das Bild insgesamt ähnlich. Die Ursachen sind vielfältig und die meisten hausgemacht. Entscheidenden Einfluss hat die russische Industriepolitik und deren Apologeten, die grundsätzlich davon ausgehen, dass Unternehmen auf den russischen Markt nicht verzichten können und wollen. Das ist ein Irrtum. Natürlich gibt niemand gern einen Standort oder einen Markt auf, in den er Zeit, Manpower, viel Geld und letztlich auch Hoffnungen investiert hat. Aber, nur ganz wenige Unternehmen wären in ihrer Existenz bedroht, wenn sie in Russland nichts mehr absetzen würden. Um es an dieser Stelle ganz klar und deutlich zu formulieren, der Wunsch der deutschen Industrie nach mehr Geschäft in Russland ist groß, siehe Umsatzzahlen weiter oben. Aber gerade im derzeitig noch kompetitiveren internationalen Umfeld, werden Investitionsentscheidungen intensiv geprüft und eher in Ländern umgesetzt, wo vielleicht die Margen niedriger, aber dafür das Risiko kalkulierbar ist.

Russischer Markt weniger wichtig

Der Markt ist im weltweiten Vergleich und im Unterschied zur Eigenwahrnehmung der Russen viel weniger wichtig als angenommen. Der deutsche Handel mit Polen ist mehr als doppelt so hoch. Selbst mit dem eher kleinen Tschechien setzen die Deutschen etwa 80 Prozent mehr um. Hinzu kommen die Rubelabwertung und die seit Jahren rückläufigen Reallöhne, die deutlich auf den Binnenkonsum rückwirken. In jüngster Zeit sorgt die stark steigende Inflation für weiter höhere Kreditzinsen. Für russische Endkunden werden ausländische Produkte dadurch noch teurer. Das hindert Unternehmen daran, ihren Maschinenpark zu modernisieren und die Anforderungen –  oft westlicher Partner – zu erfüllen. Im Ergebnis führt es dazu, dass potentielle Lieferanten den Wettbewerb um neue, nähere Standorte verlieren. Und bisher verzichtet der Staat weitgehend auf eine Unterstützung der privaten Wirtschaft in der Corona-Pandemie. Im Gegenteil: Die staatlich verordneten Ferien müssen die Unternehmen bezahlen. Denen fehlt dadurch noch mehr Geld für Investitionen. Staatsunternehmen, die oft gut kapitalisiert sind, dürfen aufgrund staatlicher Vorgaben nicht bei allen Anbietern kaufen. Kein Umfeld, in dem Investoren mit wehenden Fahnen den Markt stürmen.

Eine Nachfolgeregelung fehlt

Ein letzter Blick auf die Automobilindustrie macht deutlich, wie zweifelhaft industriepolitische Entscheidungen mittel- und langfristig sein können. Unter den 100 größten Automobilzulieferern der Welt findet sich kein russisches, und das wird auch so bleiben. Die sehr prononcierte und marktorientierte Entscheidung mit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation Automobilproduzenten und deren Zulieferer für den russischen Markt zu interessieren, hat fast alle großen Originalgerätehersteller zu einer Produktion in Russland bewegt und die Lieferanten mitgezogen. Die Förder- und Substitutionsinstrumente waren fein auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Investoren abgestimmt. All diese Regelungen sind ausgelaufen, aber die russische Regierung hat es bis heute leider versäumt, an ihrer Stelle neue Lösungen anzubieten. Noch immer wird an einer gesetzlichen Regelung gefeilt. Für die Firmen aber wird die Zeit immer knapper.

Bereitschaft für Investments existiert

Dabei bedürfte es eigentlich nur eines kontinuierlichen Austausches mit den Unternehmen, um umsetzbare Vorgaben zu erlassen. Auch russische Firmen sind mit den jüngsten Regelungen nicht besonders glücklich. Sie brauchen Zugang zu weltmarktfähigen Produkten zu akzeptablen Preisen. Was nützt Importsubstitution, wenn es innerhalb Russlands oder der EAWU keine adäquaten Anbieter gibt? Es mangelt nicht an der Bereitschaft ausländischer Investoren Russland wieder stärker in den Fokus zu nehmen. Auch produzierende Unternehmen sind durchaus bereit, sich zu engagieren. Sie brauchen dafür allerdings ein Verständnis für unternehmerische Entscheidungen. Es wäre wirklich eine verpasste Chance, jetzt nicht zu reagieren.

Der „Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de.

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