Europa und die Abhängigkeit vom russischen Gas

Eine überlebensnotwendige Beziehung?

Seit einigen Monaten steigen die Gaspreise in Europa in immer neue Höhen. Als Hauptschuldiger wird häufig und vorschnell Russland ausgemacht. Wie wichtig ist Russlands Rolle als Europas Energielieferant?

Die aktuelle Entwicklung zeigt einmal mehr, wie sehr Russland und die EU aufeinander angewiesen sind. Besonders Russland ist massiv abhängig vom Export fossiler Rohstoffe – 20 Prozent des Bruttosozialprodukts, 40 Prozent des Staatshaushaltes und 60 Prozent der gesamten Exporteinnahmen hängen vom Rohstoffexport ab. Experten bestätigten in den vergangenen Wochen regelmäßig in den großen deutschen Zeitungen, dass Russland sich bislang an die vertraglich festgelegten Gasliefermengen an EU-Staaten hält.

Allerdings setzen viele EU-Länder inzwischen auf kurzfristige Verträge zu Spotmarkt-Preisen anstatt auf langfristige Verträge. Im Zuge der Energiewende will man langfristig unabhängig von fossilem und vor allem russischem Gas werden. Kurzfristige Lieferverträge sind aktuell angesichts der rasant und nahezu täglich steigenden Spotmarkt-Preise jedoch nicht mehr lukrativ.

Der starke Anstieg der Gaspreise bedeutet auch eine Genugtuung für den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Dank der Energieknappheit in der EU kann sich Russland nun großzügig als Helfer bei der Bereitstellung zusätzlicher Gasreserven inszenieren. Für die russische Führung ist das ein Hebel und bedeutet einen Zugewinn an Macht. Man muss wissen, dass die russische Denkweise nach wie vor sehr hierarchisch ist. Entscheidungen werden in Führungsebenen von einer kleinen Anzahl an Personen getroffen und nach unten weitergegeben. Im Management nennt man diesen Ansatz Top-Down-Approach. In Bezug auf die steigenden Gaspreise und das Gasdefizit in Europa sieht sich Russland folglich als Akteur, der am längeren Hebel sitzt und der EU deshalb Bedingungen für zusätzliche Gaslieferungen diktieren kann.

Russland sitzt am längeren Hebel

Aufgrund dieser Gewissheit lässt die russische Führung aktuell einen gewissen Pragmatismus erkennen. Sie signalisiert grundsätzliche Bereitschaft, zusätzliches Gas nach Europa zu liefern – jedoch zu russischen Konditionen. Für die EU bedeutet das, langfristige Verträge mit einer Dauer von zehn bis 15 Jahren akzeptieren zu müssen. Russland weiß seine Machtposition an dieser Stelle geschickt zu nutzen und seine europäischen Partner unter Druck zu setzen. Schließlich sind sie es, die mit knapp gefüllten Gasspeichern (in Deutschland gerade mal 35 Prozent) und – aus Sicht des deutschen Wirtschaftsministers – unzureichender Diversifizierung der Energielieferungen zu kämpfen haben.

Russland nutzt seinen Hebel zudem in dem Bewusstsein, dass langfristige Gasverträge garantierte Einnahmen für den Staatshaushalt sicherstellen. Mit langfristigen Lieferverträgen wird der russische Staatshaushalt zudem unabhängiger von den volatilen Spotmarkt-Preisen und reduziert deshalb die Gasmenge auf dem Markt mit kurzfristigen Verträgen. Russland kann dadurch also sicherstellen, dass die EU – unabhängig von ihrer fortschreitenden Energiewende – weiterhin russisches Gas abnehmen wird. Das Abhängigkeitsverhältnis wird also aufrechterhalten. Das starke Abhängigkeitsverhältnis wird zudem durch die Tatsache bestätigt, dass der Anteil russischer Erdgaslieferungen nach Deutschland seit 2012 von 40 Prozent auf 55 Prozent angestiegen ist.

Aus russischer Sicht ist es deshalb nur logisch, nicht nur kurzfristig seine Liefermengen zu erhöhen und dadurch kurzfristig hohen Einnahmen nachzugehen. Russland verfolgt eine langfristige Strategie, um die Europäer weiterhin an sich zu binden. Deshalb wiegt sich die russische Führung aktuell in der Gewissheit, abwarten zu können. Nach Meinung russischer Experten werden die Europäer bei weiter steigenden Gaspreisen früher oder später nervös. Sie setzen darauf, dass die Europäer aus Angst vor zu geringen Energiereserven irgendwann auf die russischen Bedingungen eingehen werden und langfristige Lieferverträge verhandeln wollen.

Die Unterzeichnung neuer Gasverträge für die kommenden 15 Jahre zwischen Ungarn und Russland vor einigen Wochen können als Indiz für diesen Trend gewertet werden. Im Westen mögen diese Tendenzen auf wenig Verständnis stoßen. Betrachtet man die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung Russlands und die Perspektiven der russischen Wirtschaft, kann man die Interessen des Landes zu einem gewissen Grad verstehen. Zwischen „Verstehen“ und „Verständnis“ besteht jedoch ein semantischer Unterschied. Dieser Unterschied sollte in der Bewertung beachtet werden.

Innenpolitisch irrelevant

Auch innenpolitisch versucht die Führung Russlands, Kapital aus dem europäischen Engpass zu schlagen. Der eigenen Bevölkerung gegenüber inszeniert sich Russland als international bedeutender Akteur, ohne den die großen Probleme nicht gelöst werden können. Dafür wird gerne das Narrativ bedient, dass sich der vom Werteverfall geprägte Westen nicht einmal eigenständig versorgen könne. Er ist weiterhin und trotz aller Beteuerungen von Russland abhängig. Die russische Führung verkennt dabei, dass die meisten Bürger des Landes aktuell wenig Interesse am Thema der Rohstoffversorgung Europas haben. Sie haben mit der nach wie vor grassierenden Corona-Pandemie, mit steigenden Lebensmittelpreisen und sinkenden Realeinkommen derzeit andere Sorgen zu bewältigen.

Außerdem stellt sich die Frage, inwieweit die breite Bevölkerung Russlands von den Mehreinnahmen aus den langfristigen Lieferverträgen profitieren würde. Traditionell profitieren eher bestimmte Gruppen sowie die Metropolen Moskau und St. Petersburg vom russischen Wirtschaftswachstum. In den russischen Regionen entwickelt sich die Wirtschaft meist langsamer.

Wahrscheinlich hatte die russische Führung vor einigen Wochen selbst nicht damit gerechnet, in eine derart komfortable Verhandlungsposition mit ihren europäischen Partnern zu rücken. Nun aber hat sie alle Hebel in der Hand, Kapital aus der Situation zu schlagen und die Europäer auf Jahre an sich zu binden. Für die EU bedeutet die Situation das Eingeständnis, mit dem Ausbau und der Entwicklung erneuerbarer Energien – entgegen aller Behauptungen – doch noch nicht weit genug fortgeschritten zu sein, um langfristig unabhängig von fossilen Energieimporten zu sein. Und in Bezug auf Russland bedeutet das: die Abhängigkeit von Russland und seinem Gas lässt sich nicht so leicht reduzieren, wie man es sich in einigen Hauptstädten wünscht. Oder wie Uniper-Chef Maubach feststellt: „Russland kann als Lieferant in den kommenden Jahren nicht ersetzt werden.“

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