Eskapismus im Ukraine-Krieg: Warum Leichtigkeit uns am Leben hält
Ein persönlicher, bewegender Essay über Eskapismus und das emotionale Überleben inmitten des Ukraine-Krieges. Er erzählt davon, wie Menschen mit der psychischen Dauerbelastung durch Krieg, Angst und Realität umgehen – und warum gerade Leichtigkeit, Humor und scheinbar banale Eskapismen für viele überlebenswichtig sind. Dieser Beitrag ist für alle, die den Krieg nicht nur politisch, sondern auch menschlich verstehen wollen – und nach einem ehrlichen, mitfühlenden Blick auf das, was innerlich geschieht, wenn außen alles zerbricht.
Was ist Eskapismus – und wie hilft er uns, mit Extremsituationen umzugehen?
Eskapismus bedeutet, sich bewusst von belastender Realität abzuwenden – durch Fantasie, Unterhaltung oder Zerstreuung. Das Ziel: eine Pause vom inneren Druck, um die Seele zu entlasten. Eskapismus ist kein Verdrängen, sondern ein Schutzmechanismus, der hilft, psychisch gesund zu bleiben – vor allem in Krisen, Kriegen oder extremem Stress.
Wie hilft Eskapismus im Krieg?
In Extremsituationen kann niemand ununterbrochen Schmerz, Angst oder Hilflosigkeit aushalten. Eskapismus schafft für kurze Zeit Abstand. So kann man durchatmen, Kraft sammeln und weiter funktionieren. Ob beim Fernsehen, Spazierengehen oder Singen – die kleine Flucht schützt vor innerem Zusammenbruch.
Beispiele aus Geschichte & Gegenwart:
Bibel: In den Psalmen findet man poetische „Fluchten“ in Gebet, Lobpreis und Hoffnung – oft mitten im Leid (z. B. Psalm 23: „…Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde…“).
Zweiter Weltkrieg: In London schauten Menschen während der Bombardierungen im Kino Komödien – um Angst zu vergessen, wenn auch nur für 90 Minuten.
Ukraine 2022–2025: Viele flüchten heute in Serien, Zeichentrickfilme oder alte Lieder. Auch Soldaten greifen zu Kindersendungen – einfach, um kurz nicht zu fühlen, was ist.
Wenn die Realität zu viel wird
Manchmal kannst du einfach nicht mehr. Nicht, weil die Welt um dich herum zusammenbricht – sie ist gestern zusammengebrochen, und vorgestern auch, und vielleicht wird sie es noch lange tun. Sondern weil es drinnen unerträglich eng wird. Von den Nachrichten, von Gesprächen, von Chats, vom Schweigen. Von der Tatsache, dass die Realität den Schmerz mit der Zeit eigentlich hätte abstumpfen sollen, aber sie schneidet immer noch ins Lebendige. Und dann schaltest du eine Komödie ein. Oder eine alberne Serie, in der die größten Probleme der Figuren ein misslungenes Date oder ein Streit mit der Freundin sind. Und während sie streiten, scheint die Welt für einen Moment stillzustehen.
Serien, Filme und kleine Fluchten als psychische Rettung
Ich schaue kein Anime, es hat mich nie wirklich gepackt. Aber ich weiß, dass es für viele meiner Bekannten eine Rettung ist. Etwas Eigenes, Besonderes, Seltsames und Helles. Eine Welt, in der alles anders ist. Wo es keinen gewohnten Schmerz gibt, wo man sich auflösen kann, und für eine Weile aufhören kann, Teil der endlosen, beunruhigenden Realität zu sein.
Nach Beginn des Krieges wurde das ukrainische Kino anders. Es wurde ehrlich, hart, schmerzhaft. Filme, die auf wahren Begebenheiten basieren, zeigen beschossene Häuser, die Gesichter von Menschen, die alles verloren haben, und eine Stille, die nie wieder dieselbe sein wird. Diese Filme lassen einen nicht kalt, sie treffen direkt in die Brust. Ich erinnere mich, wie an Silvester einer dieser Filme ins Kino kam – mit Altersfreigabe 18+, wegen Szenen, die echten Schock auslösen können. Ich wollte hingehen. Nicht aus Neugier, nicht aus einer Neigung zum Leiden. Einfach weil es mir wichtig war – es im Kino zu sehen. Es war mir wichtig, Anteil zu nehmen, mit dem Blick die Wahrheit zu streifen, die andere durchleben.
Warum wir das Recht haben, nicht alles auszuhalten
Aber meine Freundin weigerte sich zu gehen. Sie sagte: „Ich halte das nicht aus.“ Und ich bin nicht gegangen. Ich wollte es nicht allein sehen. Sie – ein Mensch mit riesiger Empathie – wusste, dass sie danach Albträume haben würde, dass sie weinen würde, ohne zu verstehen, was da genau aus der Erinnerung hochkommt. Sie entschied sich, sich selbst zu schützen, und ich verstehe sie.
Weil wir nicht unendlich sind. Weil selbst diejenigen, die mitten im Geschehen leben, das Recht haben, die Nachrichten auszuschalten und etwas anderes einzuschalten – um zu überleben.
Das Wort „Eskapismus“ klingt oft wie ein Vorwurf. Als wäre man ein Feigling, wenn man vor der Realität flieht. Aber das ist überhaupt nicht so. Eskapismus ist ein Weg, um zurechtzukommen. Keine Flucht, sondern ein vorübergehender Schutzraum. Eine Möglichkeit, den Schmerz zu dosieren. Ein Weg, nicht verrückt zu werden.
Viele Soldaten, wenn sie für ein paar Tage nach Hause kommen, wollen nicht über den Krieg reden. Sie sitzen einfach still, gehen mit ihren Kindern spazieren oder schauen Zeichentrickfilme. Und man sieht, wie etwas in ihren Augen zurückkehrt. Nicht das Alte, nein, aber etwas Lebendiges.
Wir alle brauchen Halt. Jeder auf seine Weise. Manche gehen in den Sport, manche in die Musik, manche – in Serien. Ich kenne eine Frau, die nur alte sowjetische Komödien schaut. Weil dort alles klar ist, alles vorhersehbar, und alles gut ausgeht. Ihr Sohn ist jetzt an der Front, und sie sagt, dass nur diese Filme ihr helfen, den Verstand nicht zu verlieren. „Ich weiß, dass das komisch ist“, sagt sie, „aber während ich sie schaue, habe ich weniger Angst.“
Angst ist zum Hintergrund geworden. Wir haben gelernt, Kaffee zu trinken, während wir über die letzten Bombardierungen reden. Wir lachen, trotz allem. Manchmal ist dieses Lachen zu laut, fast hysterisch, aber es ist lebendig. Es ist unsere Rüstung.
Leichtigkeit ist keine Schwäche – sie ist unsere Rüstung
Ich höre oft: „Wie könnt ihr Spaß haben, wenn dort Krieg ist?“ Aber wie denn sonst? Nicht zu feiern heißt nicht, dass man Respekt zeigt. Nicht zu lachen heißt nicht, dass man sich erinnert. Ernst zu sein heißt nicht, stark zu sein.
Manchmal ist gerade die Leichtigkeit die Stärke. Mut bedeutet nicht, ständig Haltung zu bewahren, sondern sich zu erlauben, echt zu sein. So wie man ist – müde, weinend, die „Friends“ zum hundertsten Mal einschaltend, weil dort alles vertraut ist, stabil, wie es sein soll.
Eskapismus ist Selbstschutz, kein Weglaufen
Wir sind nicht verpflichtet, ständig zu leiden. Wir haben das Recht zu entscheiden, was und wann wir in unser Herz lassen. Und wenn du heute keinen schweren Film sehen kannst – bist du nicht schwach. Du bist einfach lebendig. Mit einem lebendigen Nervensystem, mit Gefühlen, mit Grenzen.
Leichte Geschichten machen uns nicht gleichgültig. Sie geben uns Kraft. Denn nach Tränen will man atmen. Und tief atmen kann man nur, wenn im Innern wenigstens ein bisschen Luft ist. Genau das gibt uns das Lachen. Keine Illusion, keine Verleugnung, sondern Raum. Raum für eine Pause, für Hoffnung.
Wenn wir lachen, verraten wir nicht. Wir erinnern uns daran, dass wir noch leben, dass wir das innere Recht haben zu lachen, trotz des Schmerzes, dass selbst in diesem Schmerz Platz für Licht sein kann.
Es ist erstaunlich, aber gerade die Leichtigkeit hilft uns, zum Ernsthaften zurückzukehren. Sie macht uns stärker, nicht schwächer. Denn ein Mensch kann den Schmerz nicht endlos auf ausgestreckten Armen halten. Es braucht eine Pause. Es braucht eine Atempause. Es braucht eine Komödie. Manchmal – sogar eine alberne.
Und ja, manchmal ist es leichter, über die neue Serienfolge zu reden, als darüber, was mit dem Bruder, dem Ehemann, dem Vater passiert. Manchmal ist es einfacher zu sagen: „Hast du diese Szene gesehen?“ als: „Ich habe Angst, dass ich das nicht überstehe.“
Ich glaube, genau deshalb wählen wir die Leichtigkeit. Nicht, weil wir nicht wissen wollen. Sondern weil wir schon zu viel wissen. Wir leben darin. Wir atmen das. Wir fühlen den Krieg mit der Haut. Wir ignorieren ihn nicht. Wir schützen uns – um weiterleben zu können.
Und darin liegt die Stärke. Darin, sich nicht selbst verschwinden zu lassen. Darin, die Freude nicht aufzugeben. Darin, sich immer wieder zu sagen: „Ich habe das Recht zu sein.“ Selbst wenn dieses „Sein“ heißt: Zeichentrickfilme schauen. Oder eine romantische Komödie. Oder ein Lied hundert Mal hören.
Licht im Dunkel – wie wir uns selbst bewahren
„Nur die Leichtigkeit rettet“ – das ist keine Metapher. Das ist Realität. Leichtigkeit bedeutet nicht immer Naivität. Manchmal bedeutet sie Reife. Die Reife zuzugeben: Ja, es ist schwer. Ja, ich wähle den Weg, auf dem es wenigstens für eine Stunde ein bisschen heller wird – und das ist in Ordnung.
Ich weiß nicht, wann der Krieg endet. Ich weiß nicht, wie oft wir noch unsere Lieblingsserie einschalten werden, einfach um einen Abend zu überleben. Aber ich weiß eines ganz sicher: In uns lebt eine unglaubliche Fähigkeit, Licht in den dunkelsten Ecken zu finden. Die Fähigkeit zu lachen, selbst wenn alles weint.
Und das ist keine Schwäche. Das ist – Mut.
Photo by Senad Palic on Unsplash
Über den Autor:

YELYZAVETA KOLYADA ist gebürtige Ukrainerin und Psychologiestudentin an der M.P. Drahomanov Ukrainian State University. Ebenfalls macht sie eine Ausbildung zur Gestalt-Therapeutin mit der National Association of Gestalt Therapists of Ukraine (NAGTU).