Diskussion: Endlich Wirtschaftsreformen nach der Duma-Wahl?

Szenario der “Stiftung Wissenschaft und Politik” (SWP) wirft viele Fragen auf – ein Ex-Wirtschaftsminister gibt einige Antworten

Die “Stiftung Wissenschaft und Politik” hat eine Studie über Entwicklungen, die Russlands Außenpolitik nehmen könnte, veröffentlicht. Darin findet sich auch ein Szenario, welche Perspektiven sich für Reformen der russischen Wirtschaft schon 2017 bieten könnten. Dem stellen wir hier die Einschätzungen zur Entwicklung der russischen Wirtschaftspolitik des früheren russischen Wirtschaftsministers Andrej Netschajew gegenüber.

Angesichts der langen Rezession und der schwachen Wachstumsaussichten der russischen Wirtschaft wird der Ruf nach wirtschaftspolitischen Reformen immer lauter. In der letzten Woche wiesen wir in einem Lesetipp dazu bereits auf Veröffentlichungen des britischen Russland-Experten Philip Hanson und des emigrierten russischen Wirtschaftswissenschaftlers Sergei Guriev hin.

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Hanson kam in seinem Beitrag zu einem Sammelband des italienischen ISPI-Instituts zu dem Schluss, es bestehe unter Ökonomen zwar weitgehende Einigkeit, welche Reformen nötig seien. Mit einer baldigen Realisierung rechnet er aber nicht. Nicht allein Präsident Putin, sondern alle an der Macht beteiligten „Insider“ (einschließlich der sogenannten „marktorientierten Technokraten“) hätten ein starkes materielles Interesse, am bestehenden System ohne tiefgreifende Reformen festzuhalten.

Auch Guriev betonte in seinem“ Artikel in „Foreign Affairs“, dass es für Russland nicht einfach sei, strukturelle Reformen zu verwirklichen. Voraussetzung dafür wäre die Reformbereitschaft der Führung. Grundsätzlich verfüge Russland aber über ein hohes Wachstumspotenzial.

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Neue SWP-Studie zur russischen Außenpolitik: „Denkbare Überraschungen“

Stiftung Wissenschaft und PolitikIm Juli hat nun auch die Berliner „Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP) eine Sammlung von Beiträgen zu Russland vorgelegt. Die SWP-Studie mit dem Titel „Denkbare Überraschungen“ beschreibt „Entwicklungen, die Russlands Außenpolitik nehmen könnte“, so der Untertitel.

Sie hat zum Teil heftige Kritik hervorgerufen. RT Deutsch bezeichnete sie als „Kaffeesatzleserei im intellektuellen Gewand“. Sie wolle die Botschaft vermitteln: „Auch 2017 ist Russland an allem schuld“.

In einem SWP-Interview erläuterten die Herausgeberinnen Sabine Fischer und Margarete Klein das Anliegen der Studie und ihre Methode.

„Das Projekt war eine Übung in wissenschaftlich angeleiteter Vorausschau. Wir beschäftigen uns in der Studie mit sogenannten »grauen Schwänen«, also möglichen krisenhaften Entwicklungen, die sich über einen längeren Zeitraum abzeichnen, ohne dass sie politisch mit angemessener Priorität bearbeitet werden. …

Dabei denken wir uns keine von der Gegenwart losgelösten Situationen aus, sondern machen bestehende Trends sichtbar und extrapolieren sie in die Zukunft. Wir können nicht voraussagen, ob die beschriebenen Situationen in der geschilderten Form eintreten werden. Wichtig ist aber, dass es sich um Szenarien handelt, die, wenn sie eintreten sollten, erhebliche Konsequenzen für Deutschland und die EU hätten.“

Die russische Wirtschaft steht in der Studie zwar nicht im Mittelpunkt. Die Herausgeberinnen entwerfen in ihrem Beitrag „Russland nach den Duma-Wahlen“ aber auch ein Szenario, welche Perspektiven sich für Reformen der russischen Wirtschaft schon 2017 bieten könnten.

Diesem Szenario sind im zweiten Teil dieses Artikels Einschätzungen des früheren russischen Wirtschaftsministers Andrej Netschajev zur Entwicklung der russischen Wirtschaftspolitik gegenübergestellt.

SWP-Szenario für 2017: Reformorientierte Regierung mit neuem Ministerpräsidenten Kudrin bei nationalistischer Außenpolitik

Das Szenario geht davon aus, dass Präsident Putin zwar einerseits eine neue „reformorientierte Regierung“ unter Leitung des früheren Finanzministers Kudrin einsetzt, Russland aber gleichzeitig eine „nationalistische Außenpolitik“ verfolgt.

Hier einige Auszüge aus der Beschreibung des Szenarios:

„Bei den Duma-Wahlen im September 2016 hat sich wie erwartet die kreml-nahe Partei »Einiges Russland« mit absoluter Mehrheit durchgesetzt.“

„Nachdem die Wahlergebnisse im Sinne des Kremls gesichert sind, verkündet Präsident Wladimir Putin bei seiner jährlichen Ansprache vor der Föderalversammlung im Dezember 2016 die Regierungsumbildung, über die schon seit Ende 2015 immer wieder spekuliert wurde. Er beruft den Vorsitzenden des »Komitees für bürgerliche Initiativen« (KGI), Alexej Kudrin, zum Premierminister.“

„Putin hatte Kudrin bereits im Frühjahr 2016 zum stellvertretenden Vorsitzenden des Rates für wirtschaftliche Fragen beim Präsidenten berufen und ihm die Leitung des Zentrums für Strategieentwicklung bei der Regierung übertragen. Nun wechselt Kudrin – mit Wirkung ab Januar 2017 – von diesen rein beratenden Funktionen an die Spitze der Exekutive.“

„Alexej Kudrins Ernennung zum Premier erfolgt vor dem Hintergrund der anhaltenden Krise, in der sich Russlands Wirtschaft wegen struktureller Schwächen, niedriger Rohstoffpreise und westlicher Sanktionen befindet. Nach Beginn der Krise um die Ukraine Anfang 2014 setzte die politische Führung auf konservativ-nationalistische Konzepte wie Importsubstitution oder Innovation durch Stärkung der Rüstungsindustrie. Mit der Berufung Kudrins scheint sie implizit einzugestehen, dass dieser Ansatz gescheitert ist.“

„In den ersten Monaten nach der Wahl setzt die Regierung in der Innen- und Wirtschaftspolitik neue Akzente. Sie kündigt tiefgreifende Reformschritte an, darunter die Liberalisierung, Entstaatlichung und Diversifizierung der russischen Wirtschaft. Begriffe wie Rechtsstaatlichkeit und Zivilgesellschaft kehren in den offiziellen Regierungsdiskurs zurück. Die Technokraten/innen senden vorsichtige Signale der Öffnung an die EU und deren Mitgliedstaaten.“

„Zugleich verhärtet sich die russische Außenpolitik ab Anfang 2017 weiter. Konservative und nationalistische Akteure verschärfen ihre Rhetorik gegenüber Russlands Nachbarschaft. Im Verhältnis zu einzelnen post-sowjetischen Staaten, vor allem der Ukraine und Georgien, wachsen die Spannungen. Außerdem forciert der Kreml die militärischen Gegenmaßnahmen, die er als Antwort auf den Warschauer Nato-Gipfel von Juli 2016 eingeleitet hat.“

Konsequenz für den Westen: Widersprüchliche Signale aus Moskau

Auch was eine solche Entwicklung für Deutschland und Europa bedeuten würde, beschreiben Fischer und Klein:

„Nach fünf Jahren russischer Außenpolitik, die eindeutig nationalistisch und antiwestlich ausgerichtet war, sehen sich Deutschland und die EU also plötzlich mit widersprüchlichen Signalen aus Moskau konfrontiert. Einerseits strebt ein Teil der russischen Regierung danach, Spannungen im bilateralen Verhältnis abzubauen und Möglichkeiten der Kooperation im Bereich wirtschaftlicher Reformen auszuloten. Andererseits bleibt es bei dem hegemonialen Handeln im postsowjetischen Raum und dem konfrontativen Kurs gegenüber dem Westen in der Außen- und Sicherheitspolitik.“

Wenn es denn so käme – wie diese „widersprüchlichen Signale aus Moskau“ im Westen zu deuten wären, ist Schwerpunkt der anschließenden Überlegungen der Autorinnen. Sie werfen insbesondere folgende Fragen auf:

Handelt es sich tatsächlich um einen „Elitenkonflikt“?

Gibt es einen echten Konflikt innerhalb der russischen Führungselite, wenn die Regierung in der Wirtschaftspolitik Reformen und eine Zusammenarbeit mit dem Westen anstrebt, gleichzeitig in der Außen- und Sicherheitspolitik aber einen konfrontativen Kurs verfolgt?

Vertreten die Technokraten wie Kudrin außenpolitisch tatsächlich eine grundsätzlich andere Position als die sogenannten „Silowiki“, die politisch einflussreichen Akteure aus den Sicherheitsorganen?

Sind die Technokraten überzeugt, dass Russland auf eine substantielle Zusammenarbeit mit dem Westen angewiesen ist, um die strukturellen Defizite seines ökonomischen Systems und damit die Wirtschaftskrise zu überwinden?

Oder besteht in Russland ein „Elitenkonsens“?

Gibt es zwischen den Silowiki und den reformorientierten Technokraten keinen echten Konflikt? Sind sich beide Elitengruppen einig, dass Russland die Isolation vom Westen beenden müsse, um die Folgen der Wirtschaftskrise abzufangen, gleichzeitig aber seine geopolitischen Positionen nicht aufgeben dürfe?

Wäre die Einsetzung einer »reformorientierten« Regierung also lediglich Mittel zum Zweck, um die Einigkeit des Westens in der Sanktionsfrage aufzuweichen?

SWP: Politisches System Russlands ist intransparent

Fischer und Klein beschränken sich in ihrem Beitrag weitgehend darauf, diese zum Nachdenken anregenden Fragen aufzuwerfen. Für Berlin und Brüssel bestehe die größte Herausforderung darin, herauszufinden, welche der Deutungen tatsächlich zutreffe.

Die Intransparenz des politischen Systems in Russland erlaube aber nur wenig belastbare Aussagen über interne Prozesse. Deswegen verzichten die Autorinnen wohl auch darauf, dem Leser mitzuteilen, ob sie selbst mit einem offenen Konflikt zwischen Silowiki und Technokraten rechnen oder glauben, dass ein „Elitenkonsens“ beider Gruppen bestehe.

Was meint der frühere Wirtschaftsminister Netschajev zum Kurs der russischen Wirtschaftspolitik?

Andrej NetschajewAntworten auf einige in der SWP-Studie aufgeworfenen Fragen, finden sich in zwei Interviews des früheren russischen Wirtschaftsministers Andrej Netschajew, die er kürzlich den ukrainischen Internet-Medien LB.ua und UNIAN gab.

Netschajew (Jahrgang 1953) war bereits 1992/1993 Wirtschaftsminister, leitete später eine Bank und ist Vorsitzender der „Bürgerinitiative“, einer liberal orientierten Oppositionspartei in Russland.

In Deutschland bekannt ist er unter anderem durch seine Teilnahme am Gaidar-Naumann-Forum zu den deutsch-russischen Beziehungen im Dezember 2015. Bei einer Vorstellung des Buches „Crossroads of Russian Modern History“ der russischen Reformer Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais durch die Naumann-Stiftung zeigte sich Netschajew im März 2016 auf der Leipziger Buchmesse überzeugt, dass Russlands wirtschaftliche und politische Zukunft nur mit Europa verknüpft sein könne: „Aber wann diese rosige Zukunft eintrifft, bleibt leider ungewiss“, meinte er.

Russlands Wirtschaftspolitik am Scheideweg – Entscheidung wohl erst 2018

Netschajew sieht Russlands Wirtschaftspolitik im UNIAN-Interview heute an einem Scheideweg. Eine Option sei eine noch umfassendere Verstaatlichung von Unternehmen mit Steuererhöhungen für private Unternehmen. Die zweite Option sei eine Liberalisierung der Wirtschaft und die Schaffung eines günstigen Geschäftsklimas mit attraktiven Investitionsbedingungen für russisches Kapital in Russland.

Präsident Putin verstehe das, aber er habe keine fertige Lösung. Gut sichtbar werde dies an seinen bisherigen „ziemlich seltsamen“ Maßnahmen zur Vorbereitung von Reformen. Zunächst habe er unter der Leitung von Kudrin, der für eine Liberalisierung eintritt, eine Arbeitsgruppe beim Wirtschaftsrat des Präsidenten eingerichtet. Kurze Zeit später sei eine weitere Arbeitsgruppe geschaffen worden. Sie werde aber von „Ideologen“ geleitet, die für eine noch stärkere Rolle des Staates in der Wirtschaft und eine Stimulierung der Produktion durch vermehrte Geldschöpfung einträten.

Er habe den Eindruck, zum jetzigen Zeitpunkt handele es sich um „halb-wissenschaftliche“ Debatten, die sich noch bis zu den nächsten Präsidentenwahlen 2018 hinziehen könnten. Die derzeit amtierende Regierung sei jedenfalls nicht zu irgendwelchen ernsthaften Reformen bereit.

Krise ist systembedingt, bringt die Leute aber nicht auf die Straße

Netschajew unterstrich in den Interviews wiederholt seine Begründung für die nötige Liberalisierung der Wirtschaft. Russlands Wirtschaft stecke in einer systembedingten Krise. Die Sanktionen und der Einbruch der Ölpreise hätten die Krise zwar verschärft, seien aber nicht ihre primäre Ursache.

Der Abschwung habe 2012 begonnen, lange vor der Verschlechterung der geopolitischen Situation und dem Ölpreisrückgang. Ausschlaggebend für die Krise seien Mängel des russischen Wirtschaftsmodells (hoher Staatsanteil, Abhängigkeit von Rohstoffexporten, weitverbreitete Korruption).

Aus politischer und gesellschaftlicher Sicht sei vor allem der reale Rückgang von Löhnen und Einkommen wichtig. Aber der Rückgang der Reallöhne um rund 10 Prozent im letzten Jahr reiche offenbar nicht aus, um die Leute zu Protesten auf die Straße zu bringen.

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Titelbild: Simon Schütt

Netschajew: By Andrey Nechaev (facebook) [CC BY-SA 3.0 ], via Wikimedia Commons


Sabine Fischer, Margarete Klein (SWP): Russland nach den Duma-Wahlen: Reformorientierte Regierung und nationalistische Außenpolitik; in: Denkbare Überraschungen, SWP-Studie, Juli 2016

RT Deutsch: Deutscher Regierungs-Think Tank SWP blickt in die Zukunft: Auch 2017 ist Russland an allem schuld; 11.08.2016

Andrey Nechayev; LB.ua-Interview: Russia reveals signs of serious economic recession; 04.08.2016

Andrey Nechayev; UNIAN-Interview: Russia’s ex-Minister of Economy: Putin has given up on “Novorossiya” project; 12.08.2016

Philip Hanson (Chatham House): Russia’s Global Strategy: Is It Economically Sustainable? in: Aldo Ferrari (Italian Institute for International Political Studies, lSPI): Putin’s Russia: Really Back? 21.07.2016

Sergei Guriev: Russia’s Constrained Economy; How the Kremlin Can Spur Growth; in: Foreign Affairs May/June 2016: Putin’s Russia

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