Deutsch-Russische Beziehungen: Auf Jahre eine enorme Belastung

Ost-Ausschuss-Kolumne über Wirtschaft und Politik

Gemeinsam mit Russland die europäische Zukunft gestalten, Herausforderungen von Energiewende bis Digitalisierung anpacken – es wäre so viel möglich in Europa, hätten wir normale Verhältnisse.

Eine eindrucksvoll-explosive Gemengelage

 „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht…“ Sie wissen schon, Heinrich Heine, den als Exilant der Gedanke an die Situation im Heimatland quälte. So geht es mir in letzter Zeit recht oft, wenn ich an Russland, das deutsch-russische Verhältnis und die Situation im internationalen Kontext denke. Nun bin ich weit davon entfernt, die Welt romantisch verklärt zu sehen. Aber die Vorstellung was alles möglich wäre, wenn wir normale Verhältnisse hätten, darf man schon einmal wagen – und ich meine nicht Corona. Die Pandemie kommt noch erschwerend hinzu. Der Rubelkurs ist schwindelerregend, der Kapitalabfluss aus Russland massiv, der wirtschaftliche Einbruch stark, der Ölpreis im Keller. Und als ob das nicht genug wäre: Belarus, Syrien, Libyen, Sanktionen, Navalny, Nordstream 2, am Horizont die US-Wahlen. Eine eindrucksvoll-explosive Gemengelage. Fest steht, dass die europäisch-russischen Beziehungen in den nächsten Wochen und Monaten, vielleicht sogar Jahren einer enormen Belastungsprobe unterzogen werden.

Green Deal mit Russland?

Dabei gibt es durchaus einige Erfolg versprechende bilaterale oder sogar multilaterale Projekte, die einer näheren Betrachtung wert wären. 2050 will die EU „klimaneutral“ sein. Das heißt, im Schnitt aller 27 Mitgliedsländer. Also auch Polen, dass strikt auf Kohle als Energieträger setzt, und alle anderen Mitgliedsländer, die einen Großteil ihrer Energie aus Öl und Gas erzeugen. Von den 25 Prozent Kernenergie ganz zu schweigen. Woher also soll die saubere Energie kommen? Wasserkraft? Nicht überall möglich, teuer und schlecht speicherbar. Geothermie? Siehe Wasserkraft. Windenergie? Schon jetzt ist der Widerstand in der Bevölkerung massiv, dabei wird in Deutschland – dem Vorreiter in Sachen Windräder – bisher weniger als ein Viertel der Energie aus Wind erzeugt. Das Problem der Leitungen ist weiterhin ungelöst. Solarenergie ist bisher auch nicht der Heilsbringer. Dem Wasserstoff soll die Zukunft gehören. Man kann ihn auf unterschiedliche Art produzieren, zum Beispiel aus Erdgas. Der größte Produzent in Europa ist Russland, und die Russen müssen sich sowieso ein neues Finanzmodell für ihren Haushalt einfallen lassen. Wasserstoff statt Öl und Gas könnte die Lösung sein. Geholfen wäre damit beiden Seiten – Eine klassische Win-Win-Situation.

Yandex statt Google!

Noch gibt es in Deutschland letzte Versuche, Verbrennungsmotoren einen zweiten Frühling zu bescheren. Die automobile Zukunft wird aber definitiv von klimafreundlichen Aggregaten und dem autonomen Fahren bestimmt. Die Bundesregierung will, dass Deutschland das erste Land weltweit wird, in dem diese Technologien flächendeckend eingesetzt werden. Und so schlecht sieht es damit gar nicht aus. Immerhin kommt fast die Hälfte aller Patente aus Deutschland, und die besten Ingenieure immer noch aus der Mitte Europas. Sie fragen sich, wo in diesem Sektor das Potential für eine Zusammenarbeit mit Russland liegt? Nein, Sie haben nichts verpasst. Die Innovationen werden sicher nicht aus Togliatti oder Uljanowsk kommen, aber Yandex ist ganz vorn dabei, wenn es um automatisierte Technologien und autonomes Fahren geht. Warum also vor Google zittern, wenn man innerhalb Europas die perfekten Lösungen hat?

Industrie 4.0 als Vorbild

Es klingt ein bisschen wie ein Märchen, aber die Zahlen sind ebenso unbestechlich wie aussagekräftig. Das einzige Land, in das die deutschen Maschinenbauer im ersten Halbjahr 2020 mehr exportierten als im gleichen Vorjahreszeitraum ist Russland. Daraus lassen sich gleich mehrere interessante Erkenntnisse ableiten. Offenbar funktioniert – trotz anders lautender Aussagen – die phantastisch schnelle Importsubstitution der russischen Maschinenbauer doch nicht so perfekt, von Exporten ins westliche oder ein anderes Ausland ganz zu schweigen. Deutsche Maschinen und Anlagen sind nach wie vor konkurrenzfähig und state of the art, trotz massiver Konkurrenz aus China, Japan, Südkorea und anderen europäischen Herstellern. Und die nicht weniger gute Nachricht ist, dass die Russen lieber auf Industrie 4.0 setzen als auf andere Technologien, wenn es um die Digitalisierung des produzierenden Gewerbes geht. „Im Anfang war das Wort“, wussten schon die Autoren des Alten Testaments; das gilt bis heute fort. Für Maschinen- und Anlagenbauer ist es deshalb sehr erfreulich zu wissen, dass die Russen das deutsche Glossar für Industrie 4.0 verwenden, um die Begriffe in Forschung und Lehre und in die industrielle Produktion zu übertragen. Wenigstens die Maschinen werden zwischen Deutschland und Russland eine gemeinsame Sprache finden.

Es bräuchte einen Houdini

So viel zu den theoretischen und teilweise auch praktischen Möglichkeiten einer Kooperation zwischen Deutschland und Russland, Russland und Europa. Allerdings haben sachorientierte und wirtschaftlich sinnvolle Vorschläge augenblicklich kaum Aussicht auf Erfolg, oder auch nur Aussicht gehört zu werden. Zu aufgeheizt ist die Stimmung, zu unterschiedlich die jeweilige Sicht auf die Position des anderen. In der diplomatischen Auseinandersetzung wird lange schon keine feine Klinge mehr geführt, man fühlt sich eher an ein Duell Hellebarde gegen Morgenstern erinnert. Ein ehemaliger deutscher Topdiplomat – allein an dieser Tatsache wird klar, wie lange uns die politische Krise schon begleitet – hat es einmal so ausgedrückt. „Wir haben jetzt die Affen ganz oben auf den Bäumen. Die Kunst wird darin bestehen, sie wieder herunterzuholen“. Allerdings wäre dafür das Genie eines Harry Houdini der Politik vonnöten, aber der ist weit und breit nicht zu sehen.

Der „Ost-Ausschuss – Osteuropaverein der Deutschen Wirtschaft“ veröffentlicht im Zwei-Wochen-Rhythmus eine Kolumne auf Ostexperte.de.

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Titelbild: Alexandr Grant / Shutterstock.com
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