Buchrezension: „Ami, it‘s time to go!“

Oskar Lafontaines Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas

Oskar Lafontaine hat einen schmalen Band veröffentlicht, in dem er die Politik der USA und der ihr treu ergebenen Ampelkoalition scharf kritisiert. Leider ist sein Plädoyer für eine eigenständige europäische Sicherheitspolitik recht dünn geraten.

von Leo Ensel

Es gibt Bücher, die einen Rezensenten schwer in die Bredouille bringen. Was tun zum Beispiel, wenn man ein Buch zu besprechen hat, mit dessen inhaltlichen Grundpositionen man zu nahezu hundert Prozent übereinstimmt – das diese Positionen allerdings so dünn präsentiert, dass man schon fast geneigt ist, von einer vergebenen Chance zu sprechen? Was tun, wenn der Autor auch noch vergleichsweise bekannt ist und eigentlich ein idealer Verstärker für die – vom Rezensenten geteilten – zum Medienmainstream völlig quer liegenden und dringend benötigten Argumente wäre?

Da kann man schon ins Schwitzen geraten!

Kommen wir zur Sache. Der ehemalige Oberbürgermeister von Saarbrücken, Ministerpräsident des Saarlandes, SPD-Vorsitzende, Kanzlerkandidat, Bundesfinanzminister, Gründungsvorsitzende der Partei DIE LINKE und Ex-Vorsitzende der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, kurz: Oskar Lafontaine hat unter dem nostalgische Erinnerungen weckenden Titel „Ami, it‘s time to go!“ ein insgesamt stolze 56 übersichtlich bedruckte Seiten umfassendes – ja, was eigentlich: Buch?, Büchlein?, Broschüre?, Streitschrift? – jedenfalls laut Untertitel: ein Plädoyer veröffentlicht, für das der renommierte Westend-Verlag 12 Euro fordert. Blättert man es durch und überfliegt man es flüchtig, so erkennt man sofort den Duktus des bekannten Saarländers und meint förmlich, ihn sprechen zu hören. Und in der Tat: Es handelt sich hier, wie man nach einiger Recherche dem Kleingedruckten in den Anmerkungen entnehmen kann, um die überarbeitete Version zweier Vorträge, die der Autor im März bzw. September dieses Jahres gehalten hat.

Es ist ein dünnes Büchlein und der Rezensent muss höllisch aufpassen, dass ihm seine Besprechung nicht länger gerät als das zu rezensierende Buch. Zumal der zweite Vortrag zahllose inhaltliche Überschneidungen zum ersten aufweist, sodass man ihn besser nicht auch noch zwischen die beiden Buchdeckel mit aufgenommen hätte. Aber dann wäre man lediglich auf knapp 42 Seiten gekommen – ein Umfang, der zwar jeder Festschrift zur Emeretierung eines verdienten 66-jährigen Professoren zur Ehre gereicht, sich aber für das Weihnachtsgeschäft doch eher schlecht geeignet hätte. (Es soll ja zumindest noch wie ein Büchlein aussehen!)

Die „Einzige Weltmacht“

Lafontaines Diagnose der gegenwärtigen Misere ist schnell erzählt. Die Vereinigten Staaten, die stärkste Militärmacht, handelten nach dem Motto: „Ich bin die einzige Weltmacht und möchte die einzige Weltmacht bleiben!“ Besonders gelte es „ein Zusammengehen der deutschen Technik mit den russischen Rohstoffen zu verhindern.“ (Ein in der Tat sehr langfristiges Ziel US-amerikanischer Geopolitik, das spätestens seit den berüchtigten Vorträgen George Friedmans vom Think Tank „Stratfor“ breiteren Bekanntheitsgrad erreicht hat.) Die NATO sei, so Lafontaine, „nichts anderes als ein geopolitisches Instrument der USA, einer Macht, die zur Durchsetzung ihrer Interessen in aller Welt verdeckte Kriege, Wirtschaftskriege, Drohnenkriege und Bombenkriege führt.“ Parallel dazu habe Deutschland die äußerst erfolgreiche Entspannungspolitik Willy Brandts aufgegeben und durch eine Politik der Konfrontation ersetzt. Statt im Ukrainekrieg zu deeskalieren, schütte der Westen – von den Vasallen der Ampelkoalition willig assistiert – nur noch mehr Benzin ins Feuer und riskiere damit im Worst Case einen Atomkrieg in Europa. Die westlichen Sanktionsorgien seien (selbst)-mörderisch, da sie hüben wie drüben in erster Linie die Ärmsten träfen. Europa müsse sich endlich von den USA abkoppeln und eine eigene Sicherheitsstruktur aufbauen.

Das alles ist ohne Zweifel zu hundert Prozent zutreffend. Allerdings hat man das mittlerweile schon öfter – und vor allem, wie in dem Band „Nationale Interessen“ von Klaus von Dohnanyi, fundierter begründet – gelesen.

Die nebulöse „Selbstbehauptung Europas“

Lafontaine mäandert von einer Sünde der USA und der ihr hörigen Ampelkoalition zur nächsten und teilt überall gerne mal aus. Dass er dabei auf Schritt und Tritt fündig wird, ist seine Schuld nicht. Dass das Ganze sehr unsystematisch angelegt ist, allerdings schon. Es ist wie leider für viele Reden typisch: Alle, durchaus richtigen, Gedanken werden wenig geordnet präsentiert, kurz angerissen – und nicht weiter ausgeführt!

Am deutlichsten wird das, wenn es um die zentrale These des Büchleins geht, die auch dessen Untertitel abgegeben hat: die von Lafontaine geforderte Selbstbehauptung Europas.

„Wir Europäer müssen eine eigene Sicherheitsstruktur aufbauen – ohne die USA. Wir brauchen die Befreiung Europas von der militärischen Vormundschaft der USA durch eine eigenständige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.“ Well roared, Oskar, möchte man dem Ex-Politiker zustimmend entgegenjubeln. Leider bleibt Lafontaine aber genau an diesem Punkt, wo es wirklich spannend wird, bemerkenswert nebulös. Der Satz „Wir brauchen eine eigenständige europäische Politik, die sich an Willy Brandt, Charles de Gaulle oder Hans-Dietrich Genscher orientiert“ hilft da auch nicht weiter. Schließlich würde man zu gerne wissen, wie sich der Saarländer „die eigenständige Sicherheitsstruktur“ denn genauer vorstellt – vor allem was die Frage der Bewaffnung angeht!

Schwebt Lafontaine, der im selben Atemzug – und zwar völlig zu recht – leidenschaftlich vor einem Nuklearkrieg in Europa warnt, gar eine „Atommacht Europa“ unter dem „nuklearen Schutzschirm“ Frankreichs vor? Und wie soll diese neue De facto-Supermacht sich geopolitisch verorten? Wer Antworten auf diese relevanten Fragen sucht, die eigentlich konsequent auf Lafontaines gesamter Argumentationslinie lägen, sucht vergebens. Und leider wird noch nicht einmal angedeutet, in welche Richtung es nach Meinung des Autors gehen sollte.

„Ich plädiere schon seit 40 Jahren …“

Lafontaine redet, pardon: schreibt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Den oberlehrerhaften Gestus hat er sich immer noch nicht abgewöhnt. Das mag in einer Rede, die man live erlebt, gerade noch durchgehen – gedruckt und zwischen zwei Buchdeckel gepresst, wirkt es oft peinlich.

„Die Belesenen glauben ohnehin nicht …“, „Dabei weiß doch jeder, der sich mal ein bisschen informiert hat …“, „Ich plädiere schon seit vielen Jahren – seit mindestens 40 Jahren …“, „Sehr früh ist mir klargeworden, dass …“, „Denn eins dürfte doch langsam klar sein …“, „Ich bin, seit ich in der Politik bin, dafür …“, „Ich hätte manchmal Lust, die Mitglieder der Bundesregierung zur Teilnahme an einem Seminar zu verpflichten …“, „Die Politiker und ihre Berater müssten in der von mir geforderten Nachhilfestunde …“, „Einst saß ich neben Heinrich Böll, Petra Kelly und Gerd Bastian vor dem US-Depot in Mutlangen …“, „Ich bin in jener Zeit als ein Sprecher der Friedensbewegung durch die Lande gezogen und habe gesagt …“ – Es sind solche Formulierungen, die, zumal in ihrer Geballtheit auf engstem Raum, auf Dauer immer unangenehmer aufstoßen!

Der Himmel ist blau

Im Grunde macht Lafontaine in diesem Bändchen nichts Anderes als mit großem Aplomb zu verkünden, dass der Himmel blau ist. Und dass dies in der Tat immer wieder gesagt werden muss – und in den herrschenden Kreisen auch noch als Skandal gilt –, spricht Bände über die ‚geistige Situation‘ unserer Zeit!

„Aber“, so könnte man einwenden, „es handelt es sich doch hier um eine Rede und nicht um eine wissenschaftliche Monographie!“ Zweifellos. (Es sind, genau gesagt, sogar der Reden zwei, wobei die zweite ärgerlicherweise vor Wiederholungen nur so strotzt!) Aber nicht jede Rede muss man verschriftlichen oder gar als Buch herausbringen. Wenn man das aber schon tut, dann sollte man sie wenigstens redaktionell sorgfältig überarbeiten. Und so wünscht man sich, Oskar Lafontaine hätte sich entweder die Mühe gemacht, ein richtiges Buch zu schreiben oder der Verlag hätte den Mut aufgebracht, das Projekt in dieser Form abzulehnen. Aber dafür war der Name des Autors wohl zu zugkräftig.

Und das wiederum ist das (nahezu einzig) Positive an diesem Büchlein. Bietet doch der bekannte Name Lafontaines immerhin die Chance, noch weitere Bevölkerungskreise zu motivieren, sich mit den ja richtigen Grundpositionen auseinanderzusetzen um, einmal auf die rechte Spur gebracht, ihre anspruchsvoller gewordene Wissbegierde in kompetenteren Schriften anderweitig zu befriedigen. Die unangenehmen Wahrheiten, die Lafontaine zumindest anreißt, können in der heutigen Zeit und vor dem Hintergrund einer nahezu freiwillig gleichgeschalteten Medienlandschaft gar nicht oft genug ausgesprochen werden!

Wer zwölf Euro sinnvoll anlegen will und noch nicht Opfer des – von Lafontaine zu Recht kritisierten – Sozialabbaus oder der rapide steigenden Inflationsrate geworden ist, sollte lieber noch etwas tiefer in die Tasche greifen, zehn Euro drauflegen und sich den Band „Nationale Interessen“ von Lafontaines ehemaligem Parteigenossen, Klaus von Dohnanyi, zulegen.

Denjenigen aber, die sich selbst das schon nicht mehr leisten können, sei als Resümee versichert: Es ist ein Büchlein, das man sich – und nicht nur zur Weihnachtszeit – getrost schenken kann!

Oskar Lafontaine: „Ami it‘s time to go! Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas“. Westend Verlag, Frankfurt/M. 2022, 12.- €

Dieser Text erschien zuerst auf Globalbridge.ch.

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