Morgenkommentar am 16. März 2017

Anhaltende Proteste in Belarus – seit einem Monat kommt es fast täglich zu Demonstrationen, und das nicht nur in der Hauptstadt Minsk. Es sind jeweils nur einige Hundert oder wenige Tausend, aber eben nicht nur die hauptstädtische Jugend (das “liberale Elektorat”), sondern die traditionellen Unterstützer des Präsidenten Alexander Lukaschenka: die Provinz, die Älteren, die Ärmeren. Städte wie Baranowitschi, Bobruisk und Molodetschno sind nicht eben Horte pro-westlichen Dissidententums.

Es ist in der Tat die Armut, nicht der politische Protest, der die Menschen auf die Straße treibt. Um an der grassierenden Schwarzarbeit mitzuverdienen, hat der Staat schon 2015 allen Bürgern, die nicht mindestens die Hälfte des Jahres über beschäftigt sind, eine Sondersteuer auferlegt – das inzwischen berüchtigte Dekret Nr. 3, genannt “Über die Vermeidung der Abhängigkeit”. Im Volksmund: Sozialschmarotzer-Gesetz. Der Betrag ist nicht ohne: umgerechnet über 220 Euro im Jahr.

Das in einem Land, wo Lehrkräfte an der Universität gut 130 Euro im Monat verdienen und das Arbeitslosengeld bei monatlich 20 Euro liegt.

Bekannt wurde das Dekret erst, als im Januar 470.000 Weißrussen, rund 5 Prozent der Bevölkerung, einen sog. Glücksbrief  mit der Zahlungsaufforderung erhielten. Rund 54.000 haben inzwischen gezahlt, den übrigen drohen administrative Strafen, gemeinnützige Arbeit, schlimmstenfalls Haft.

Seit Jahren wird davor gewarnt, das “Geschäftsmodell Weißrussland” werde auf Dauer nicht tragen. Im Kern lässt der Präsident sich von Moskau in Form billiger Öl- und Gasimporte dafür bezahlen, dass er dem russischen Lager treu verbunden bleibt. Die Rohstoffe werden durch die umfangreiche petrochemische Industrie verarbeitet, die Produkte zu Weltmarktpreisen ins Ausland verkauft. Mit dem Ertrag finanziert Lukaschenka einen Sozialstaat, der in weiten Teilen wie ein “Themenpark UdSSR” wirkt. Seit dem Ende der Sowjetunion beneiden russische Rentner, vor allem in der Provinz, ihre dortigen Alterskollegen.

Korruption, das Fehlen wettbewerbsfähiger Industrien, die hohe Abhängigkeit von Russland, nicht zuletzt das russische Missbehagen, in Zeiten fallender Energiepreise auch noch den Minsker Staat durchfüttern zu müssen – das wirtschaftliche System Lukaschenka ist deutlich prekärer als das politische. Jetzt kommt auch noch die Nachricht, dass Moskau ab sofort keinen Dieseltreibstoff mehr nach Weißrussland liefern wird – im vergangenen Jahr waren das fast 700.000 Tonnen. Offensichtlich wird der Diesel dort umzertifiziert und in die Ukraine weiterverkauft. Was sie für den Eigenbedarf benötigen, produzieren die Weißrussen selbst.

Der Kreml muss sich fragen, ob er seine Interessen nicht auch in Minsk – wie schon vor 2014 in Kiew – auf ein wenig zukunftsfähiges Konzept mit inkompetentem Personal stützt. Auch wenn die westlichen Regierungen dort kaum ähnlich offensiv auf einen Regime Change hinarbeiten dürften wie 2013/14 auf dem Kiewer Maidan – ein Staat Belarus, der sich aus dem russischen Einfluss löst und politisch näher an NATO und EU rückt, käme ihnen extremst zupass.